Warum hat der das gemacht?
Der deutsche Regisseur Thomas Sieben befasst sich in seinem neuen Spielfilm "Staudamm", einem fiktiven Drama, mit den Folgen eines Amoklaufs für die Überlebenden. Die ruhigen Bilder geben dem Zuschauer viel Raum zum Nachdenken. Besonders überzeugend: Die Hauptfigur Laura, gespielt von Liv Lisa Fries.
Die Anspannung vor der Premiere in Erfurt war den Filmemachern anzumerken. Für sie ist es etwas Besonderes, einen Film über einen Amoklauf in Erfurt zu zeigen, wo die Erinnerungen an die 16 Ermordeten am Gutenberg-Gymnasium vor 12 Jahren noch sehr lebendig sind. Der Hauptdarsteller Friedrich Mücke:
"Ja, absolut. Also wir sind alle im Team aufgeregter, als den in Berlin zu zeigen. Also, ich spüre das in diesem Moment: Die Leute kommen ja an und berichten von ihren Erlebnissen – das ist jetzt schon kein normales Screening; das ist schon jetzt anders."
Und der Regisseur Thomas Sieben ergänzt:
"Ja, das ist was ganz Besonderes. Mir fehlen noch so ein bisschen die richtigen Worte. Ich war heute schon, bevor ich angekommen bin, am Gutenberg-Gymnasium für ein Interview mit dem MDR, haben da so ein paar Bilder gedreht – und das war schon sehr, sehr intensiv. Ging mir schon sehr nah!"
Das Kino war gut gefüllt, der Erfurter Lehrerverband hatte eingeladen und die Trommel gerührt für einen Film, der auf Gewaltszenen verzichtet, ja der den Tathergang selbst als Leerstelle zeigt, nur vermittelt durch kühl vorgetragene Polizeiberichte.
"Es war ein ganz normaler Wochentag. Dann gab es Gerüchte, jemand schießt in der Schule, es gäbe Tote. Ich habe dann gleich versucht, in der Schule anzurufen: Das ging nicht. Dann habe ich gewartet, eine Ewigkeit, bis zum Abend. Dann kam die Nachricht, die vielen Toten. Ich habe natürlich gehofft bis zuletzt. Ich habe mich natürlich nicht getraut, das zu denken, aber dann wurde es war: Jemand sagte es mir dann, einfach so, 'Ihr Kind ist tot.'"
"Peter hat das ganz bewusst gemacht"
Der Film "Staudamm" zeigt keinen spezifischen Amoklauf. Vielmehr will er das Verbindende zwischen den Taten in Erfurt, Emsdetten, Winnenden usw. aufspüren. Dabei verweigert er vorschnelle Antworten, ja sogar Fragen. Die zentrale Frage…
"Was glaubst´n du? Warum hat denn der das gemacht?
…beantwortet die Hauptfigur Laura, sehr beeindruckend gespielt von Liv Lisa Fries, mit einem Kuss. Der Film erzählt ihren Weg, das Erlebte zu verarbeiten. Der Geküsste, Roman, verkörpert von Friedrich Mücke, tappt etwas naiv und ratlos durch die Kleinstadt im Allgäu, lernt besagte Liv, die den Amoklauf miterlebt hat, näher kennen, stellt wenige Fragen, auf dem ersten Blick die Falschen – für Liv sind es oft die richtigen:
Laura: "Die Leute sagen immer 'Amoklauf'. Peter hat das ganz bewusst gemacht. Der hat das lange geplant und genau durchgeführt."
Roman: "Warst du dabei? Dann hast du das alles gesehen?"
Laura: "Ja."
Roman: "Und warum lebst du noch?"
Laura: "Normalerweise fragen einen die Leute immer, ob’s einem besser geht und nehmen einen in den Arm, aber 'Warum lebst du noch?' – das hat noch niemand gefragt."
Roman: "Warst du dabei? Dann hast du das alles gesehen?"
Laura: "Ja."
Roman: "Und warum lebst du noch?"
Laura: "Normalerweise fragen einen die Leute immer, ob’s einem besser geht und nehmen einen in den Arm, aber 'Warum lebst du noch?' – das hat noch niemand gefragt."
"Staudamm" gibt dem Zuschauer in ruhigen, schönen Bildern viel Raum zum Nachdenken, aber er kommt erst sehr spät in Gang und bietet dem, der keine Fragen mitbringt, mitunter zu wenig Anregung. Stark der Tagebuchtext des Amokläufers, der am Ende vieles von dem auffängt, was zuvor ungesagt blieb:
"Meine Eltern, die sagen immer, 'Peter, wir haben keine Ahnung, wer du wirklich bist!' Zumindest sind sie ehrlich, und das ist cool. Was ich wirklich hasse? Werbung! Ich habe neulich gelesen, dass der Mensch am Tag 3.000 Werbesprüche sehen muss. Ein Wunder, das hier noch kein Krieg ist. Ich sag mal, wie es ist: Ich bin das Gesetz. Was ich sage, wird passieren. Wenn ich sage, dass die Welt brennt, dann brennt sie auch."
Film soll Lehrer für Hilferufe von Jugendlichen sensibilisieren
Die Diskussion nach dem Film war eher müde, draußen beim Sektempfang jedoch gab es noch angeregte Diskussionen mit der Filmcrew. Die Meinungen zum Film waren gemischt, aber meist positiv.
"Sehr gut; ich bin sehr berührt. Und für mich war sehr angenehm, dass das ein Film ohne erhobenen Zeigefinger war."
"Ein Film, der unter die Haut ging! Am Anfang war er für mich ein bisschen träge."
"Sehr beeindruckend, nicht bedrückend, ganz leise, aber sehr gewaltig. Muss man unbedingt im Kino gucken, find‘ ich."
Eine besondere Erfurt-Note war schwer auszumachen, aber doch vorhanden. Erinnerungen kamen hoch, an Lehrer, Freunde, Kollegen, die am Gutenberg-Gymnasium dabei waren. Nichts, was man einem Mikrofon anvertrauen möchte. Der Vorsitzende des Thüringer Lehrerverbandes, Rolf Busch, will den Film vor allem Lehrern zeigen, um sie zu warnen und empfänglich zu machen für Hilferufe vor der Tat.
"Wir müssen uns nicht Gedanken darüber machen, 'Was kann einen normalen jungen Menschen dazu treiben, so eine Wahnsinnstat zu begehen?', sondern wir müssen uns die Frage stellen, wie können wir ein Kind, einen Jugendlichen, das eben aus meiner Sicht auch eine pathologische Komponente hat, wie kann man das erkennen, wie kann man ihm helfen, wie kann man ein Netzwerk bauen, dass also rund um Schule auch andere Kompetenzen da sind: Schulpsychologen, Sozialarbeiter, Jugendamt? Also, da denke ich nicht nur an einen Amoklauf, sondern da denke ich wirklich auch daran, was unsere jungen Menschen heute für Probleme haben, den zu erkennen, dem zu helfen und dadurch vielleicht sogar auch den einen oder anderen Suizid oder Amoklauf zu verhindern."