Amokschützen lernen voneinander
Von Port Arthur über Erfurt und Winnenden bis nach Oslo und Utøya: Ines Geibel verschränkt eigene Recherchen mit psychoanalytischer Kenntnis und neuer Forschung aus Neuropsychologie, Kriminologie, Evolutionsbiologie. Das ist spannend zu lesen und mit Empathie geschrieben.
Jede Amoktat hat ihre individuelle Vorgeschichte und wird juristisch als spezifischer einzelner Fall aufgearbeitet. Für die Frage, ob und warum diese Art Verbrechen eine neue Dimension bekommen hat und was man dagegen tun könnte, ist kein Gericht zuständig. Aber genau sie beschäftigt, auch zurecht, die Öffentlichkeit. Amoktaten sind Massenmorde, die tiefe Wunden in die Gesellschaft schlagen. Das Gefühl, dass sie seit etwa zwanzig Jahren beunruhigend zunehmen, mag durch mediale Hysterie verschärft werden, aber es wurzelt in der Realität. Überdies haben die Fälle, in denen ein überbewaffneter, junger Mann an einem öffentlichen Ort, in einer Schule ein Blutbad anrichtet, beunruhigende Gemeinsamkeiten.
Um diese Schnittmengen geht es Ines Geipel, die sich 2004 schon einmal ausführlich mit dem Massaker im Gutenberg-Gymnasium Erfurt auseinandergesetzt hat, in ihrem neuen Buch. Ihnen spürt sie nach anhand von fünf Amoktaten und -orten, von Port Arthur/Tasmanien 28. April 1996 über Erfurt 26. April 2002, Emsdetten 20. November 2006, Winnenden 11. März 2009 bis nach Oslo und Utøya 22. Juli 2011. An ihnen verfolgt sie im Detail nach, was inzwischen Standard der kriminologischen Forschung ist: Amokschützen lernen voneinander. Für den tasmanischen Täter wirkte das Massaker an 16 Kindern und ihrer Lehrerin im schottischen Dunblane wie ein Aufputschmittel, sechs Wochen später tötet er 35 Menschen. Columbine am 20. April 1999 wird "zu einer neuen Grammatik des Tötens". Ab 2001 erweitert Nine-Eleven den mörderischen Horizont. Heute bietet die Internet-Community Amok-Rankings.
Schnittmengen sind Waffenfetischismus, Alkohol, Drogen wie Extasy, Tilidin und Anabolika und manisches Online-Kriegspielen. Moderne Amokläufe sind keine spontanen Ausbrüche, sondern präzis vorbereitete Taten, in denen sich ein länger verkapseltes Ohnmachtsgefühl in absolute Macht verwandeln und den Täter berühmt machen soll. Amokläufer sind keine sozial verkorksten dummen Jungs, sie sind zumeist hochintelligent, bestens vernetzt und "töten aus unserer Mitte heraus". Ines Geipel schildert, wie die jeweilige Mitte als sprachloser "Echoraum" funktioniert, als "Trauma-Container", in dem individuelle wie kollektive Gewalterfahrung nachhallen - die Entgrenzung der Menschlichkeit durch Nazigewalt etwa bis ins heutige Norwegen. Alle Täter hatten "entborgene Kindheiten", manche professionelle Hilfe, ihre vielen Zeichen hat niemand richtig gelesen.
Ines Geipel versucht im "Amok-Konplex", all dem auch literarisch beizukommen. Sie schreibt so emphatisch wie empathisch, verschränkt eigene Recherchen mit psychoanalytischer Kenntnis und neuer Forschung aus Neuropsychologie, Kriminologie, Evolutionsbiologie. Das ist spannend zu lesen, gerade weil sie den Erzählfluss immer wieder unterbricht mit Variationen auf die zutiefst aufklärerische Frage: Wie kann man von so etwas erzählen, ohne "die mediale Dauerdröhnung durch Gewalt zu bedienen"?
Besprochen von Pieke Biermann
Ines Geipel: Der Amok-Komplex
Klett-Cotta, Stuttgart 2012
343 Seiten, gebunden, 19,95 EUR
Um diese Schnittmengen geht es Ines Geipel, die sich 2004 schon einmal ausführlich mit dem Massaker im Gutenberg-Gymnasium Erfurt auseinandergesetzt hat, in ihrem neuen Buch. Ihnen spürt sie nach anhand von fünf Amoktaten und -orten, von Port Arthur/Tasmanien 28. April 1996 über Erfurt 26. April 2002, Emsdetten 20. November 2006, Winnenden 11. März 2009 bis nach Oslo und Utøya 22. Juli 2011. An ihnen verfolgt sie im Detail nach, was inzwischen Standard der kriminologischen Forschung ist: Amokschützen lernen voneinander. Für den tasmanischen Täter wirkte das Massaker an 16 Kindern und ihrer Lehrerin im schottischen Dunblane wie ein Aufputschmittel, sechs Wochen später tötet er 35 Menschen. Columbine am 20. April 1999 wird "zu einer neuen Grammatik des Tötens". Ab 2001 erweitert Nine-Eleven den mörderischen Horizont. Heute bietet die Internet-Community Amok-Rankings.
Schnittmengen sind Waffenfetischismus, Alkohol, Drogen wie Extasy, Tilidin und Anabolika und manisches Online-Kriegspielen. Moderne Amokläufe sind keine spontanen Ausbrüche, sondern präzis vorbereitete Taten, in denen sich ein länger verkapseltes Ohnmachtsgefühl in absolute Macht verwandeln und den Täter berühmt machen soll. Amokläufer sind keine sozial verkorksten dummen Jungs, sie sind zumeist hochintelligent, bestens vernetzt und "töten aus unserer Mitte heraus". Ines Geipel schildert, wie die jeweilige Mitte als sprachloser "Echoraum" funktioniert, als "Trauma-Container", in dem individuelle wie kollektive Gewalterfahrung nachhallen - die Entgrenzung der Menschlichkeit durch Nazigewalt etwa bis ins heutige Norwegen. Alle Täter hatten "entborgene Kindheiten", manche professionelle Hilfe, ihre vielen Zeichen hat niemand richtig gelesen.
Ines Geipel versucht im "Amok-Konplex", all dem auch literarisch beizukommen. Sie schreibt so emphatisch wie empathisch, verschränkt eigene Recherchen mit psychoanalytischer Kenntnis und neuer Forschung aus Neuropsychologie, Kriminologie, Evolutionsbiologie. Das ist spannend zu lesen, gerade weil sie den Erzählfluss immer wieder unterbricht mit Variationen auf die zutiefst aufklärerische Frage: Wie kann man von so etwas erzählen, ohne "die mediale Dauerdröhnung durch Gewalt zu bedienen"?
Besprochen von Pieke Biermann
Ines Geipel: Der Amok-Komplex
Klett-Cotta, Stuttgart 2012
343 Seiten, gebunden, 19,95 EUR