Abstiegsangst

Gegen den Reformstau helfen nur radikale Schritte

04:41 Minuten
Menschen auf der Haupttreppe der Bauhaus-Universität Weimar
Geht es aufwärts oder abwärts in und mit Deutschland? Viele Menschen sind nach drei Jahren "Fortschrittskoalition" verunsichert, meint der Autor Christian Schüle. © picture alliance / dpa / Sebastian Kahnert
Überlegungen von Christian Schüle |
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Die Ampel-Regierung wollte Deutschland verändern - ökologisch, wirtschaftlich, sozial. Doch viele Menschen wollen diese Transformationen nicht. Der Essayist Christian Schüle sieht die Ursache für den Unwillen zur Veränderung in einer Vertrauenskrise.
Zu allem Überdruss jetzt also auch noch drohende Massenarbeitslosigkeit, drastischer Geburtenrückgang, steigende Krankenkassenbeiträge, schwindende Steuereinnahmen. Dazu neue Insolvenzen, Pleiten, Schließungen. Ringsum Rezession, Mangel, Verlust und Depression. Kein Wirtschafts-, aber Kriminalitätswachstum. Und keine Antwort auf die Frage: Wem und was kann der Mensch bei all den digitalen Manipulationen und Deepfakes überhaupt noch glauben?
Und inmitten all der schon durch Corona, Krieg und künstliche Intelligenz genährten Unsicherheits- und Kontrollverlust-Erfahrungen sollen wir uns alle verändern, besser noch: ökologisch und sozial transformieren in eine bessere Welt mit besseren Menschen. Was ja in gewisser Weise einzugestehen bedeutet, dass wir heute schlechte Menschen sind oder zumindest unser bisher gelebtes Leben falsch ist. Und dann soll alles zugleich und möglichst sofort geschehen, als wäre Veränderung an sich bereits erstrebenswert.

Verordnete Veränderung erzeugt Widerstand

Wird Veränderung aber verordnet, schafft sie sich ihren eigenen Widerstand. Werden Menschen und ihre Bedürfnisse ignoriert, führt das zu Trotz. Permanent eingeforderter Transformationsdruck kann in dauerhafter Transformationserschöpfung und schließlich in Veränderungsverweigerung resultieren. 
Die Bereitschaft zur Veränderung setzt vor allem eines voraus: Vertrauen. Vertrauen in den guten Gang der Dinge und eine positive Vision dessen, was am Ende herauskommen soll – vornehmlich für einen selbst, aber auch für die Interessen des eigenen Landes. Den guten Gang aber erkennt kaum noch jemand, da noch nicht mal der Weg klar ist, auf dem man gehen soll.
Wer nicht mehr vertraut, will sich nicht verändern und wird an seiner Haltung nichts ändern. Er hält fest und verteidigt den Status quo, den zu sichern für fast alle ohnehin mühsam genug ist.

Reaktionäre Retro-Parteien

Das oft diffuse Gefühl permanenten Verlusts ist das derzeit sehr erfolgreiche Geschäftsmodell reaktionärer Retro-Parteien wie AfD und BSW, die in ihren Programmen die Rückkehr in eine heile Welt der 70er-Jahre versprechen, in der sich Leistung (angeblich) noch lohnte, der Sozialstaat noch intakt war und die Übersichtlichkeit der Probleme für Ordnung sorgte. Bei den Landtagswahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen bekamen beide Parteien zusammen bekanntlich jeweils annähernd die Hälfte der Stimmen.
Bereits vor fünf Jahren haben Demoskopen deutlich darauf hingewiesen, dass das Vertrauen der Deutschen in die Demokratie rapide sinke und sich zunehmend mehr und vor allem junge Mitbürger einen „starken Führer“ wünschten. Autoritäre Sehnsüchte sind also seit Langem kultiviert und stetig weitergewachsen. Wer seither mit offenen Augen und Ohren durch die Welt gegangen ist, kann über die Entwertung der repräsentativen Demokratie durch Vertrauensverlust in Institutionen und Repräsentanten heute nicht ernsthaft überrascht sein.

Die Regierung Scholz sollte endlich abtreten

Misstrauen, das über lange Zeit hinweg gewachsen ist, lässt sich nicht mit einem Fingerschnippen verscheuchen. Es müsste dringend dieser "Ruck" durch Deutschland gehen. Optimismus und Gemeinsinn müssten vorgelebt werden, und neues Vertrauen könnte gesät werden, würde die Scholz-Regierung aus Verantwortungsbewusstsein für Deutschland endlich abtreten.
Für eine eher konsensorientierte, struktur- wie wertkonservative Gesellschaft wie die deutsche hat sie letztlich zu viel Vertrauen irreparabel zerstört. Zumindest könnte eine neue Regierung – wenn schon keine Groß-Utopie – so doch über ein neu organisiertes Solidaritäts- wie Sicherheitsgefühl neue Glaubwürdigkeit zu stiften versuchen. Kein Nationalismus bitte, aber neue Rahmensetzungen für das alte "Made in Germany".
Zuversicht kommt nur zurück, wenn Leistung sich lohnt, oben wie unten; wenn Anstrengung gefordert und gewürdigt wird und wenn die Identifikation der Bürger mit ihrer Republik durch die Einsicht gedeiht, trotz aller Krisen nach wie vor in einem der lebenswertesten Länder der Welt zu leben.

Christian Schüle, geboren 1970, hat in München und Wien Philosophie, Soziologie und Politische Wissenschaft studiert. Er hat einen Lehrauftrag für Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin und lebt als freier Schriftsteller, Essayist und Publizist in Hamburg. Unter seinen zahlreichen Büchern sind der Roman „Das Ende unserer Tage“ und zuletzt die Essays „Heimat. Ein Phantomschmerz“ sowie „In der Kampfzone“.

Der Autor Christian Schüle
© imago / Sven Simon
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