Pauline Pieper studiert Philosophie im Master an der Humboldt-Universität zu Berlin. Ihre Interessenschwerpunkte sind Sozialphilosophie und Kritische Theorie.
Kommentar zur Ampelkoalition
Hoffentlich ist es nicht Beton: Steckt hinter den Blütenträumen vom Aufbruch in eine bessere Zukunft nur der unbeirrbare alte Fortschrittsglaube des Industriezeitalters? © imago images/Westend61
Was heißt hier Fortschritt?
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Die neue Ampelkoalition will "mehr Fortschritt wagen". Laut einer Umfrage nehmen ihr das 64 Prozent der jungen Menschen ab. Was aber bedeutet Fortschritt überhaupt? Pauline Pieper erinnert an die ambivalente Geschichte dieses Begriffs.
Zumindest bei der jungen Generation ist die neue Ampelkoalition bereits beliebt. Der Mindestlohn soll erhöht, die erneuerbaren Energien sollen ausgebaut werden – Vorhaben wie diese sind anscheinend gut angekommen. Einer Umfrage zufolge glauben knapp zwei Drittel der 16- bis 24-Jährigen, dass es mit der neuen Regierung tatsächlich mehr Fortschritt geben wird.
Glaube an den geradlinigen Lauf der Geschichte
Und „Mehr Fortschritt wagen“ klingt gut – nach Aufbruch, nach Neuanfang, nach einer besseren Zukunft. Ohne Frage: Der Koalitionsvertrag enthält einige vielversprechende Forderungen. Die dahinterstehende Rede vom Fortschritt allerdings ist tückischer, als es auf den ersten Blick scheinen mag.
Die Vorstellung eines linearen Fortschreitens der Geschichte ist ein zentrales Narrativ der westlichen Moderne. Von Kant über Hegel bis zu Marx wurde davon ausgegangen, dass die Geschichte einen zielgerichteten, aufsteigenden Verlauf nimmt. Grundlegend ist die Idee einer sich im Laufe der Geschichte immer weiter entfaltenden Vernunft. Auch vereinzelte Rückschritte bekommen einen Sinn, wenn die Geschichte im Großen und Ganzen als Fortschrittsprozess begriffen wird.
Verbrechen im Namen des Fortschritts
Aber lässt sich an einem solchen Fortschrittsnarrativ heute noch festhalten? Die unzähligen Gräueltaten der Geschichte rufen daran ebenso große Zweifel hervor wie unsere krisengebeutelte Gegenwart. Schon Adorno gab zu bedenken, dass im Angesicht der Verbrechen des Nationalsozialismus von einem Fortschritt oder gar Sinn in der Geschichte nicht mehr die Rede sein könne. Und auch heutzutage erweckt die Klimakatastrophe eher den Eindruck des nahenden Weltuntergangs als den einer glorreichen Zukunft.
Aber nicht nur das. Das Fortschrittsnarrativ entpuppt sich bei näherem Hinsehen sogar als Teil der gegenwärtigen Probleme. Denn im Namen des technologischen Fortschritts sind die natürlichen Ressourcen so stark ausgebeutet worden, dass die Menschheit ihre eigenen Lebensgrundlagen zu verlieren droht. Unbegrenzte Wachstumsdynamik hat die Beherrschung der Natur in eine Beherrschung der Menschen durch die Natur umschlagen lassen. Erinnert sei an die Flutkatastrophe und Waldbrände in diesem Sommer.
Wirklicher Aufbruch oder "Weiter so"?
Aber nicht nur diese technologische Seite des Fortschritts ist problematisch. Im Namen eines moralischen Fortschritts unterwarfen Europäer ganze Kontinente und zerstörten Kulturen. Ideologisch gerechtfertigt wurde das mit der vermeintlichen Überlegenheit gegenüber den rückständigen „Anderen", die es zu zivilisieren galt. Noch heute zeugt die globale Ungleichheit von dieser verhängnisvollen Kolonialgeschichte.
Wenn die Ampelkoalition ein „Mehr“ an Fortschritt proklamiert, dann stellt sie sich in eine Kontinuität mit der Vergangenheit. Sie scheint sich damit als nächste Stufe eines Fortschrittsprozesses zu präsentieren. Vor dem Hintergrund seines bitteren Erbes sollte das Fortschrittsnarrativ aber vielmehr selbst hinterfragt werden. Ob die Ampelkoalition dazu bereit ist, ist allerdings sehr zweifelhaft. Wenn wirtschaftliches Wachstum und technologische Entwicklung vorrangige Mittel zur Bekämpfung des Klimawandels sind, und globale Ungleichheiten etwa bei der Verteilung der Impfstoffe aufrechterhalten werden, dann stellt sich die Frage, ob der viel beschworene „Aufbruch“ nicht eigentlich ein „Weiter so“ ist.
Eine wahrhaft fortschrittliche Politik müsste die Idee eines Fortschritts aufgeben, die unsere gegenwärtigen Probleme erst mitverursacht hat. So ist auch Adornos Urteil zu verstehen: „Fortschritt ereigne sich dort, wo er endet“. Erst eine Politik, die mit dem bisherigen Fortschrittsnarrativ bricht, hätte die Hoffnung der jungen Generation tatsächlich verdient.