Amy Hempel: "Sing"

Immer diese traurigen Paare

05:52 Minuten
Das Cover von Amy Hempels Buch Sing. Neue Stories. auf pastellfarbenen Hintergrund.
Amy Hempel schreibt vom überraschenden Scheitern, von andauernden Hoffnungen, traurigen Paaren und verwunde­ten Frauen. © Deutschlandradio / Marix Verlag
Von Manuela Reichart · 11.05.2020
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Untreue Männer, sinnsuchende Frauen - Amy Hempel erzählt in ihren Storys "Sing" vom alten Drama zwischen Mann und Frau. Jeder ihrer Sätze scheint klar und birgt doch ein Rätsel. Großartige Literatur von einer bei uns noch unbekannten Autorin.
Er ist ein Frauenverzehrer, ein Mann, der das Gefühl erweckt, er wolle wie die Geliebten alles, hundert Prozent investieren und gemeinsam in eine neue Dimension aufbrechen, der dann aber doch nur bei seinen "fünfundsechzig" Prozent Zuneigung und Mut bleibt. Nur manchmal wird ihm langweilig, "insbesondere in kalten Nächten am Wochenende. Also greift er zum Telefon, um eine anzurufen, die er zurückgewiesen hat."
Die 1951 geborene amerikanische Schriftstellerin, die bei uns leider immer noch eine Unbekannte ist, braucht nicht mehr als anderthalb Seiten, um das alte Drama zwischen Mann und Frau neu zu beschreiben: die unterschiedlichen Sehnsüchte und Hoffnungen, die Unfähigkeit des Mannes – und die dumme Bereitschaft der Frauen, gegen jede Erfahrung immer wieder an einen strahlenden Anfang zu glauben.

Im Hinterhof eines New Yorker Mietshauses

Es geht nicht um das Innenleben, nicht um das Ausleuchten von Motiven oder Charakteren in diesen grandiosen Geschichten. Stattdessen bringt uns Amy Hempel mit knappen Bildern und luziden Sätzen dazu, die Leerstellen selber zu füllen. Wir lesen vom überraschenden Scheitern, von andauernden Hoffnungen, traurigen Paaren und verwundeten Frauen. Jeder dieser klaren Sätze – so hat es der Literaturkritiker James Wood in der Zeitschrift "New Yorker" beschrieben – enthält eine ganze Geschichte, ein Rätsel.
"Andere Menschen kommen mit Mord davon, aber ich komme nicht mal damit durch, im Bett ein Glas Wasser zu trinken." So beginnt etwa die traurig-komische Story über eine einsame Frau, die im Hinterhof ihres New Yorker Mietshauses einen kleinen braunen Bären beobachtet. Für einen Augenblick meint sie, ihr toter Hund sei ihr in neuer Gestalt erschienen.

Begleitet von einer Schreckensmelodie

Unverbindliche Nähe, dauernde Ehen, untreue Männer, sinnsuchende Frauen, zufällige Begegnungen mit unabsehbaren Folgen: Es ist das gewöhnliche Leben, um das es in diesen Miniaturen geht. Und manchmal auch um eine folgenschwere Entscheidung. Als 18-Jährige hatte eine Frau – in der längsten Geschichte dieses Bandes – ihr Baby zur Adoption freigegeben. Seitdem begleitet sie die Vorstellung von dem, was aus dem Mädchen geworden sein könnte. Sie ist nicht verzweifelt, bereut nicht – auch nicht, als sie erfährt, dass es sich bei der Institution, die damals die Adoption vermittelte, um ein Horrorhaus gehandelt hat. Sie kann nur nicht aufhören, daran zu denken, ihr ganzes Leben wird begleitet von einer Schreckensmelodie. Die tönt nicht immer laut, ist aber als Hintergrundgeräusch stets da.
Von New York ist die ehemalige Lehrerin nach Florida gezogen, hier kann sie preiswerter leben. Aber das ist schon das Beste, was sich über die neue Existenz der Teilzeit-Altenbetreuerin sagen lässt: Nicht nur in ihr, sondern auch um sie herum herrscht ein stilles, oft groteskes Grauen. Amy Hempel erzählt in Abschweifungen und scheinbar zusammenhanglosen Erinnerungsfetzen von einer Frau ohne Eigenschaften. Das Ende ist ebenso verstörend wie gewaltig. Auch wenn eine Entscheidung richtig war, bleibt sie falsch. Die Möglichkeit in der Wirklichkeit zu erfassen: Das gelingt der Literatur, jedenfalls wenn sie so großartig ist wie die von Amy Hempel.

Amy Hempel: Sing. Neue Stories
Aus dem Amerikanischen von Annette Kühn und Christian Lux
Marix Verlag, Wiesbaden, 2020
200 Seiten, 16 Euro

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