Analyse

Russlands Ängste und die Schwächen der EU

Frau hält eine Ukraine-Fahne in den Händen.
Die Ukraine, die die EU-Assoziierung will, sei eine Blaupause dafür, wie die EU dastehen solle: allein, meint Timothy Snyder. © dpa / Jörg Carstensen
Von Sabine Adler |
Warum wurde die Ukraine Zielscheibe russischer Aggression und Okkupation, weshalb entschloss sich Russlands Präsident Putin, die EU als Gegner zu betrachten - Wissenschaftler suchten auf einem Treffen in Kiew nach Antworten auf diese Fragen.
Vor zehn Jahren überraschte der russische Präsident Putin die Welt. In seiner Rede an die Nation 2004 bezeichnete er als größte Tragödie des 20. Jahrhundert den Zerfall Sowjetunion, die doch laut Hymne unzerstörbar war. Als er die Krim annektierte und sie der Russischen Föderation anschloss, sah das für den ukrainischen Präsidenten Turtschinow wie der erste Schritt zur Rekonstruktion der UdSSR aus:
"Die russische Führung träumt von der Wiederherstellung eines postsowjetischen Imperiums. Die Ukraine mit ihren Millionen Opfern zu Sowjetzeiten wird niemals Teil dieses postsowjetischen Imperiums werden."
Wie bei der Krim argumentiert Wladimir Putin auch in der jetzt durch Russland destabilisierten Ostukraine, dass sie russisches Territorium war.
"Charkow, Lugansk, Donezk, Cherson, Nikolajew, Odessa. Sie haben zur Zarenzeit nicht zur Ukraine gehört, das war Noworossija. Sie wurden erst von der Sowjetregierung der Ukraine gegeben."
Putins Ziel ist eine eurasische Gegenunion zur EU
Der amerikanische Historiker Timothy Snyder bezweifelt jedoch, dass es Putin um die Wiederherstellung des Sowjetreiches geht. Seine These lautet: Putin greift die EU an:
"Mit Beginn des 21. Jahrhunderts war es für alle osteuropäischen Länder unvorstellbar, nicht zur EU gehören zu dürfen, die EU war der attraktive gemeinsame Markt, der kollektive Wohlfahrtsstaat. Die Sowjetunion: vorbei. Und in der EU war man überzeugt, dass alle Welt die EU mag. 2013 änderte sich das. Es erschien ein Rivale, kein sowjetischer oder russischer, sondern ein eurasischer. Russland will die eurasische Union und die betrachtet die EU als Feind, als Teufel, als etwas, das zerstört werden muss. Putins Eurasische Union ist ein Gegenprojekt zur EU. Während des Maidan wurde erstmals der fundamentale Wandel in der russischen Propaganda sichtbar. Die EU wurde als Feind betrachtet und als dekadent."
Die westliche Toleranz Homosexuellen gegenüber gilt als Ausdruck der Verderbtheit. Sind für Putin und Co. Schwule Sündenböcke wie einst die Juden?
Das eurasische Projekt wird von rechtsradikalen klerikalen russischen Vordenkern wie Alexander Dugin schon seit einigen Jahren verfolgt. Dugin erinnert äußerlich an den Schriftsteller Alexander Solschenizyn. Schütteres Haar, Zauselbart. Der Professor an der Moskauer Lomonossow-Universität greift eine Idee der 1920er Jahre auf: Eurasia. Kern dieser Ideologie: Russland war jahrhundertelang von den Mongolen beherrscht, die ein riesiges Reich errichteten, mit Härte und Disziplin. Der asiatische Einfluss unterscheide Russland von Europa, deswegen müsse Moskau einen dritten Weg gehen, ein eigenes Reich gründen – von Wladiwostok bis Lissabon. Was die Zerstörung der EU bedeutet.
"Dem Biest ist nicht beizukommen"
Die Ukraine, die die EU-Assoziierung will, ist die Blaupause, sagt Timothy Snyder.
"Das Eurasia-Projekt möchte Europa exakt so aussehen lassen, wie die Ukraine im Moment: allein, ohne genügend Freunde, fragmentiert, zerlegt, von außen angegriffen. Die Ukraine ist ein Testfall für die EU als Ganzes."
Snyder, Autor des Bestsellers "Bloodlands – Europa zwischen Hitler und Stalin", gilt als einer der besten Kenner sowjetischer Geschichte. Er sieht nicht eine Neuauflage des Kalten Krieges, auch nicht die Wiederherstellung der Sowjetunion. Putin strebe nach seiner eurasischen Union, deren Anfang die Zollunion mit Kasachstan und Weißrussland ist. Die Autokraten arbeiteten bereits zusammen.
"Sie sind Kinder der Breschnew-Zeit. Aber sie sind ganz und gar im 21. Jahrhundert angekommen, sie sind, ob es uns gefällt oder nicht, die weltbesten Propagandisten, zum Beispiel mit ihrem Faschismusvorwurf gegen die Ukraine, den Maidan. Dagegen sehen wir aus wie 19. Jahrhundert."
Im vollbesetzten Auditorium der Kiewer Universität fragt eine Wissenschaftlerin nach Putins Manifest. Ob es von Putin so etwas wie Hitlers "Mein Kampf" gebe.
"Selbst wenn es 'Mein Kampf' geben würde, würde das unser Problem nicht lösen. Was auch in den 1930er Jahren schon nicht der Fall war. Dem Biest ist nicht beizukommen mit einer didaktischen Strategie, die wird durchkreuzt von Millionen Aktionen im Internet, die nicht logisch sind, irrational, eine Utopie, die auf Zerstörung zielt."
Der Osteuropa-Experte und Hannah-Arendt-Preisträger mahnt: Der Westen müsse Moskau gemeinsam entgegentreten, denn:
"Das Eurasia-Projekt Russlands zielt auf den Bruch zwischen den USA und Europa, auf die Fragmentierung Europas, was übrigens die Aufmerksamkeit von Präsident Obama auf Osteuropa gelenkt hat."
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