Analyst der Gesellschaft

Von Günther Wesel |
Er verfasste ein Buch, das noch heute zur Basislektüre vieler Politikstudenten gehört: Alexis de Tocquevilles "Über die Demokratie in Amerika" ist ein Standardwerk der vergleichenden Politikwissenschaft. Vor 180 brachen Tocqueville und Gustave de Beaumont für ihre Studien in die USA auf.
Lange haben die beiden jungen Richter von dieser Reise geträumt. Sie haben Anträge geschrieben, sich freistellen lassen und um unbezahlten Urlaub gebeten. Endlich, am 2. April 1831, betreten sie die Planken der "Le Havre", die sie von Frankreich nach Amerika bringen soll. Eine Reise mit Hindernissen: Erst läuft das Segelschiff auf eine Sandbank auf, dann sind die Winde widrig. Nach fünf Wochen ist der Proviant aufgebraucht, New York noch immer meilenweit entfernt. Der Kapitän läuft deshalb Newport an. Am 12. Mai ist im "Mercantile Adviser", der in New York erscheint, zu lesen:

"Wie wir erfahren, sind hier zwei Richter, die Messrs. de Beaumont und de Tocqueville, eingetroffen, die im Auftrag des französischen Innenministers verschiedene Gefängnisse in unserem Land besichtigen und darüber nach ihrer Rückkehr nach Frankreich Bericht erstatten sollen."

Schon seit Jahrzehnten plant Frankreich, seinen Strafvollzug zu reformieren. Das bietet Alexis de Tocqueville und seinem Freund Gustave de Beaumont die Chance zu ihrer Studienreise, doch ihre eigentliche Aufgabe interessiert die beiden nur wenig:

"Man muss schon gestehen, dass der genannte Auftrag uns dazu zwingt, den Gefängnissen wahnsinnig viel Zeit zu widmen, die man für etwas anderes besser gebrauchen könnte."

In Frankreich weiß man nicht viel über die USA. Sie sind ein unbekanntes Territorium, eine große Republik mit weitem Hinterland, in der in 25 Staaten gerade mal 13 Millionen Menschen leben. Frankreich hat zur selben Zeit 31 Millionen Einwohner. Amerika – die Neue Welt – fasziniert die Bewohner der Alten. Alexis de Tocqueville ist ein genauer Beobachter des Neuen. Ein Kritischer.

"Eine Gesellschaft ohne Wurzeln, ohne Erinnerungen, ohne Nationalcharakter. Was macht aus all dem ein Volk? Der Eigennutz. Die Leidenschaft des Geldmachens beherrscht alle anderen Leidenschaften."

320 Tage bleiben die Freunde im Land. Sie reisen zu den Großen Seen, erreichen den letzten weißen Vorposten in Michigan, klagen über Mückenschwärme, besichtigen Gefängnisse, befahren den Ohio River, kentern und ertrinken fast und besuchen die Hauptstadt Washington, wo sie von Präsident Andrew Jackson empfangen werden. Tocqueville ist wenig beeindruckt:

"Wir plauderten über allerlei Bedeutungsloses, er reichte uns ein Glas Madeira."

Zurück in Frankreich, verfassen Tocqueville und Beaumont ihren Bericht über den Strafvollzug in den USA. Dafür wird ihnen ein Preis der Académie française verliehen. Wichtiger jedoch ist das Werk, das Tocqueville ab 1833 verfasst: "Über die Demokratie in Amerika", in dem er nicht nur die Staatsverfassung der USA betrachtet, sondern die Gesamtstruktur der Gesellschaft. Das Buch, in dem Tocqueville das Verhältnis von Gleichheit, Freiheit und Demokratie analysiert, wird direkt ein Erfolg und ist bis heute ein Standardwerk der Sozial- und Politikwissenschaften.

"Die Erfindung der Feuerwaffen stellt den Bürger dem Ritter auf dem Schlachtfeld gleich; die Buchdruckerkunst öffnet ihrem Verstand gleiche Hilfsmittel; die Post trägt die Bildung in Hütte wie Palast; der Protestantismus versichert, alle Menschen seien gleicherweise imstande, den Weg zum Himmelreich zu finden."

Der Mensch, egal welcher Hautfarbe oder welcher Konfession, sei vom Glauben an seine Gleichberechtigung nicht mehr abzubringen. Demokratie sei daher die einzige mögliche Regierungsform - auch wenn Tocqueville ihr selbst skeptisch gegenübersteht:

"Ich habe für die demokratischen Einrichtungen eine verstandesmäßige Neigung, von Instinkt aber bin ich Aristokrat, das heißt ich misstraue der Masse. Die erste meiner Leidenschaften aber ist die Freiheit."

Er spricht von der "Tyrannei der Mehrheit", die den Einzelnen in seiner Individualität einschränke und zu normiertem Verhalten führe, davon, dass die Gleichheit aller die Gewinnsucht steigere, da es nur noch materiellen Besitz als Unterscheidungsmerkmal gäbe. Zudem sei eine zu weit gehende Delegation der Macht gefährlich. Denn schließlich liebe es die Regierung zu lenken, und den Bürgern sei es ganz bequem, regiert zu werden. So werde deren Freiheit immer mehr verwaltet und eingeschränkt – am Ende folge die Knechtschaft.

Das Gegenmittel: Die Aufteilung und die Kontrolle der Macht auf allen Ebenen und der Rückzug der Regierung aus den Bereichen, die die Bürger selbst organisieren könnten. Sein Fazit: Stetige Wachsamkeit, denn es sei kein Zufall, in welche Richtung sich die Nationen entwickelten:

"Es hängt von ihnen selbst ab, ob die Gleichheit sie zur Knechtschaft führt oder zur Freiheit, zur Kultur oder zur Barbarei, zum Segen oder zum Elend."