"Anarchischer Befreiungsakt"
Modernes Regietheater, das radikal mit eingefahrenen Sichtweisen bricht, findet man derzeit bei der Operette kaum. Es geht nicht mehr um Ideologiekritik, sondern darum, sich den Ambivalenzen, dem Kitsch, dem oft eigenartigen Humor zu stellen.
Im Gefängnis, im fidelen Gefängnis beim Gefängnisdiener Frosch endet oft das Theaterjahr. Der letzte Akt der Johann-Strauß-Operette "Die Fledermaus", nach wie vor die beliebteste Silvestervorstellung. In den letzten vier Wochen gab es nicht weniger als sieben Neuinszenierungen im deutschsprachigen Raum. Ein Theaterskandal ist die Orgie beim russischem Prinzen Orlowski 2010 wohl nirgendwo, auch wenn sie Katharina Thalbach in Erfurt unter Vampiren in Friedhofsnähe spielen ließ. "Glücklich ist wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist."
"Das könnte ja fast eine buddhistische Weisheit sein. Entspann dich. Lass mal locker. Oder es ist ein Loblied auf den Alkohol oder der ganze Abend ist ein Abend für Alkoholiker, wenn man so will."
Die Ansage vor dem Vorhang klingt wie eine Drohung: "Und nun viel Vergnüngen mit der lustigen Operette." Nicolas Stemann hat 2010 in der Komischen Oper Berlin "La Périchole" von Jacques Offenbach inszeniert. Im Operettenstaat Peru herrscht nämlich verordneter Vergnügungszwang. Stemann inszeniert Operette wie ein Stück von Elfriede Jelinek. Nicht plausible Figuren, sondern Meinungen und Paradoxa werden theatralisiert. 2010 hat die Komische Oper Berlin noch eine weitere Operette herausgebracht: Ralf Benatzkys "Im weißen Rössl", und in verblüffender Weise hat Sebastian Baumgarten gar nichts geändert, ja nicht einmal gekürzt:
"War sehr begeistert von dem Stück, übrigens das erste Stück, wo ich nichts an Texten oder so hineingemacht habe."
Ob Sebastian Baumgarten, wenn er im Sommer 2011 "Tannhäuser" in Bayreuth inszenieren wird, auch so werkgetreu vorgehen wird? Theaterskandal mit Operetten hatten vor zehn Jahren Peter Konwitschny mit der "Csárdásfürstin", die er in die Schützengräben des Ersten Weltkriegs verlegte, oder Hans Neuenfels, der bei den Salzburger Festspielen die geliebte "Fledermaus" in den Austrofaschismus verlegte, erzielt. Ist die Zeit dafür vorbei?
"Ich glaube, dass diese Handschriften oder Abschriften, ein Stück so zu lesen, auch Entschärfungsprozesse in sich tragen. Man hat so die sichere Seite. Der Alt-68er lehnt sich zurück und sagt: Okay, jetzt hat er begriffen und das kritisch behandelt."
Die Neubewertung des "Weißen Rössls" hängt wohl auch mit der Entdeckung einer Abschrift der Originalpartitur in Zagreb zusammen, die schon für eine Aufführung 2009 in der Staatsoperette Dresden rekonstruiert wurde. Sie zeigt verblüffend, wie nahe musikalisch die große Revue "Im weißen Rössl" Kurt Weill und der "Dreigroschenoper" kommt. Dennoch, die Neubewertung des "Weißen Rössls" ist länger her. Die Initialzündung für eine Neubewertung der Operette geht auf eine legendäre Aufführung in der "Bar jeder Vernunft" 1994 zurück, die Christoph Marti inszenierte, bekannt auch als ein Teil der Geschwister Pfister:
"Ich hatte eine große Begeisterung für diese Vorlage und habe ein paar Mal Aufführungen gesehen und gemerkt, dass ich wütend aus dem Theater herausgehe. Das hat natürlich mit meiner Liebe zu diesem Werk zu tun. Ich habe mich damals schon gefreut, dass wir dann damals mit einer Operette so treffsicher waren. Ich kenne so viele Leute in meinem Freundeskreis, die sagen, ich hasse Musical. Aber die Operette ist für mich das Allerunterschätzteste in unserer heutigen Zeit. Das hat viel damit zu tun, was mit der Geschichte der Operette passiert ist, durch die Nazis, durch die Vertreibung der ganzen Künstler, die ja das überhaupt kreiert haben. Und man sagt dann − genauso pauschal − nach dem Krieg war dann keine Operette und eigentlich kam sie nur in Form des Heimatfilms, sprich in Form von Anneliese Rothenberger, die verkörpert für viele die Operette und auch das Schreckliche an der Operette. Das ist für mich auch schon wieder Quatsch. Anneliese Rothenberger ist aus der heutigen Sicht betrachtet wieder wundervoll. Wir wollen doch wieder diese Betonfrisuren sehen!"
Zur Zeit gibt es womöglich eine Fortführung jener Arbeit. Die Oper Köln wird am 30.12. im Palladium "Die Csárdásfürstin" mit Uli Pfister in der Titelrolle der Varietékünstlerin Sylvia Varescu herausbringen. Operette aus dem Geist des Varietés. Und was den Trend angeht – Operette führt den Regisseur weg vom Konzept zurück zum Handwerk. Sebastian Baumgarten:
"Ich bin natürlich an einem Punkt wo mich die Ausformulierung vom Handwerk mehr interessiert. Ich bin nicht mehr 29 und suche nach der grundradikalen Form. Ich weiß auch gar nicht, ob sich nicht die Leute in ihrer radikalen Formsuche ein bisschen entradikalisiert haben."
Pointen setzen können; Witze, die nicht wirklich lustig sind, so treffsicher bringen, dass man dennoch lachen muss; und Kitsch ertragen, ja ihn genießen können:
"Guter Kitsch ist für mich die Sehnsucht der falschen Gefühle nach Echtheit. Man weiß, etwas ist nicht echt, das ist imitiert, Kitsch, aber es möchte gerne echt sein, es möchte gerne richtig empfinden."
Operette 2010: Operette ernst genommen. Eine aktuelle Theaterform. Oder nicht doch hoffnungsloser Anachronismus. Sebastian Baumgarten:
"Es sind einfach harte Zeiten. Es geht nicht mehr drum, dass Leute um die 50, 55 nicht mehr in die Gesellschaft hineinkommen, sondern es fängt inzwischen bei 40 an. Und dann ist dieses Lachen, dass man nicht nur etwas weglacht, auch ein anarchischer Befreiungsakt."
Christoph Marti:
"Viele dieser Werke sind vor einem zeitlich ganz düsteren Hintergrund. 'Die Csárdásfürstin' ist vielleicht das beste Beispiel dafür. Mitten im Ersten Weltkrieg kommt so was daher und spielt auch mit diesem Tanz auf dem Vulkan. Aber da denke ich, wo sind wir denn heute? Es kann niemand ernsthaft sagen, dass wir darüber hinaus sind. Und jetzt ist alles gut. Jetzt ist eigentlich gar nichts gut. Es ist die perfekte Zeit, um kluge Unterhaltung und tolle Operetten zu machen."
"Das könnte ja fast eine buddhistische Weisheit sein. Entspann dich. Lass mal locker. Oder es ist ein Loblied auf den Alkohol oder der ganze Abend ist ein Abend für Alkoholiker, wenn man so will."
Die Ansage vor dem Vorhang klingt wie eine Drohung: "Und nun viel Vergnüngen mit der lustigen Operette." Nicolas Stemann hat 2010 in der Komischen Oper Berlin "La Périchole" von Jacques Offenbach inszeniert. Im Operettenstaat Peru herrscht nämlich verordneter Vergnügungszwang. Stemann inszeniert Operette wie ein Stück von Elfriede Jelinek. Nicht plausible Figuren, sondern Meinungen und Paradoxa werden theatralisiert. 2010 hat die Komische Oper Berlin noch eine weitere Operette herausgebracht: Ralf Benatzkys "Im weißen Rössl", und in verblüffender Weise hat Sebastian Baumgarten gar nichts geändert, ja nicht einmal gekürzt:
"War sehr begeistert von dem Stück, übrigens das erste Stück, wo ich nichts an Texten oder so hineingemacht habe."
Ob Sebastian Baumgarten, wenn er im Sommer 2011 "Tannhäuser" in Bayreuth inszenieren wird, auch so werkgetreu vorgehen wird? Theaterskandal mit Operetten hatten vor zehn Jahren Peter Konwitschny mit der "Csárdásfürstin", die er in die Schützengräben des Ersten Weltkriegs verlegte, oder Hans Neuenfels, der bei den Salzburger Festspielen die geliebte "Fledermaus" in den Austrofaschismus verlegte, erzielt. Ist die Zeit dafür vorbei?
"Ich glaube, dass diese Handschriften oder Abschriften, ein Stück so zu lesen, auch Entschärfungsprozesse in sich tragen. Man hat so die sichere Seite. Der Alt-68er lehnt sich zurück und sagt: Okay, jetzt hat er begriffen und das kritisch behandelt."
Die Neubewertung des "Weißen Rössls" hängt wohl auch mit der Entdeckung einer Abschrift der Originalpartitur in Zagreb zusammen, die schon für eine Aufführung 2009 in der Staatsoperette Dresden rekonstruiert wurde. Sie zeigt verblüffend, wie nahe musikalisch die große Revue "Im weißen Rössl" Kurt Weill und der "Dreigroschenoper" kommt. Dennoch, die Neubewertung des "Weißen Rössls" ist länger her. Die Initialzündung für eine Neubewertung der Operette geht auf eine legendäre Aufführung in der "Bar jeder Vernunft" 1994 zurück, die Christoph Marti inszenierte, bekannt auch als ein Teil der Geschwister Pfister:
"Ich hatte eine große Begeisterung für diese Vorlage und habe ein paar Mal Aufführungen gesehen und gemerkt, dass ich wütend aus dem Theater herausgehe. Das hat natürlich mit meiner Liebe zu diesem Werk zu tun. Ich habe mich damals schon gefreut, dass wir dann damals mit einer Operette so treffsicher waren. Ich kenne so viele Leute in meinem Freundeskreis, die sagen, ich hasse Musical. Aber die Operette ist für mich das Allerunterschätzteste in unserer heutigen Zeit. Das hat viel damit zu tun, was mit der Geschichte der Operette passiert ist, durch die Nazis, durch die Vertreibung der ganzen Künstler, die ja das überhaupt kreiert haben. Und man sagt dann − genauso pauschal − nach dem Krieg war dann keine Operette und eigentlich kam sie nur in Form des Heimatfilms, sprich in Form von Anneliese Rothenberger, die verkörpert für viele die Operette und auch das Schreckliche an der Operette. Das ist für mich auch schon wieder Quatsch. Anneliese Rothenberger ist aus der heutigen Sicht betrachtet wieder wundervoll. Wir wollen doch wieder diese Betonfrisuren sehen!"
Zur Zeit gibt es womöglich eine Fortführung jener Arbeit. Die Oper Köln wird am 30.12. im Palladium "Die Csárdásfürstin" mit Uli Pfister in der Titelrolle der Varietékünstlerin Sylvia Varescu herausbringen. Operette aus dem Geist des Varietés. Und was den Trend angeht – Operette führt den Regisseur weg vom Konzept zurück zum Handwerk. Sebastian Baumgarten:
"Ich bin natürlich an einem Punkt wo mich die Ausformulierung vom Handwerk mehr interessiert. Ich bin nicht mehr 29 und suche nach der grundradikalen Form. Ich weiß auch gar nicht, ob sich nicht die Leute in ihrer radikalen Formsuche ein bisschen entradikalisiert haben."
Pointen setzen können; Witze, die nicht wirklich lustig sind, so treffsicher bringen, dass man dennoch lachen muss; und Kitsch ertragen, ja ihn genießen können:
"Guter Kitsch ist für mich die Sehnsucht der falschen Gefühle nach Echtheit. Man weiß, etwas ist nicht echt, das ist imitiert, Kitsch, aber es möchte gerne echt sein, es möchte gerne richtig empfinden."
Operette 2010: Operette ernst genommen. Eine aktuelle Theaterform. Oder nicht doch hoffnungsloser Anachronismus. Sebastian Baumgarten:
"Es sind einfach harte Zeiten. Es geht nicht mehr drum, dass Leute um die 50, 55 nicht mehr in die Gesellschaft hineinkommen, sondern es fängt inzwischen bei 40 an. Und dann ist dieses Lachen, dass man nicht nur etwas weglacht, auch ein anarchischer Befreiungsakt."
Christoph Marti:
"Viele dieser Werke sind vor einem zeitlich ganz düsteren Hintergrund. 'Die Csárdásfürstin' ist vielleicht das beste Beispiel dafür. Mitten im Ersten Weltkrieg kommt so was daher und spielt auch mit diesem Tanz auf dem Vulkan. Aber da denke ich, wo sind wir denn heute? Es kann niemand ernsthaft sagen, dass wir darüber hinaus sind. Und jetzt ist alles gut. Jetzt ist eigentlich gar nichts gut. Es ist die perfekte Zeit, um kluge Unterhaltung und tolle Operetten zu machen."