Visionär einer freien Gesellschaft
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Er war Geograf, Schriftsteller, Aktivist – und einer der bedeutendsten Vordenker des kommunistischen Anarchismus. Vor 100 Jahren ist Pjotr Alexejewitsch Kropotkin gestorben. Am Rand von Moskau ist heute ein Museum über ihn untergebracht. Ein Besuch.
Wer sich dem Haus nähert, in dem Pjotr Kropotkin starb, sieht in einem Innenhof im Zentrum von Dmitrow einen allein stehenden Holzbau vor sich. Russischer vorrevolutionärer Stil, keineswegs ärmlich. Das einstöckige Bauwerk wirkt wie eine Insel einer anderen Zeit, links und rechts überragt von neungeschossigen Plattenbauten. Es ist, als halte sich Kropotkin, der die Gewalt der Bolschewiken ablehnte, die sowjetische Massenarchitektur noch immer erfolgreich vom Leib.
Anarchist, Wissenschaftler, Abenteurer
"Der größte Teil der Bevölkerung hat eine einigermaßen verkehrte Wahrnehmung von seiner Tätigkeit", sagt Natalja Portnowa. Sie ist Leiterin des Kropotkin-Museums in Dmitrow, einer Stadt im nördlichen Speckgürtel Moskaus. Sie findet: Die Erinnerung an diesen Mann ist nicht ausgewogen.
"Die Leute kennen sein großes anarchistisches Erbe, wissen aber absolut nichts über seine großartige wissenschaftliche Arbeit. Die ist für uns deshalb eine Priorität, weil er der Wissenschaft immer treu war. Sein Beitrag zur Gründung unseres Museums, seine letzte wissenschaftliche Arbeit über die Gletschertheorie wurde in diesem Haus geschrieben."
Kropotkin verbrachte mit seiner Frau seine letzten beiden Lebensjahre in diesem Haus, das zu einem kleinen adligen Anwesen gehörte, von dem heute nur das Wohnhaus übrig ist.
Der Wissenschaftler, der in jüngeren Jahren lange Zeit auf Expeditionen durch Sibirien verbracht hatte, leitete auch hier noch Erkundungen der Umgegend. Zum Glück, muss man sagen, suchte er Kontakt zu den Einheimischen im Ort, denn deren Zeugnisse sind fast die einzigen Quellen, aus denen sich heute noch darauf schließen lässt, mit was für einem Menschen sie es zu tun hatten.
Freiheit statt Bolschewismus
Natalja Portnowa stößt häufig auf die Haltung von Museumsbesuchern, die Anarchie mit Chaos gleichsetzen: "Wenn jemand darüber nachdenkt, wie die Gesellschaft in Zukunft aufgebaut sein muss, dann ist er einfach Philosoph. Das beschreibt ihn besser als das bloße Verständnis, dass die Gesellschaft ohne staatliche Gesetze leben sollte. Mir gefällt das Modell, das Pjotr Alexejewitsch Kropotkin für eine Zukunft erdacht hat, in der nach seinem Wunsch freie Menschen leben. Diese Gesellschaft basiert auf vier Schlüsselwörtern: moralische Sittlichkeit, Gleichberechtigung, Gerechtigkeit und gegenseitige Hilfe."
Der Rote Terror der Bolschewiken, deren Praxis der Geiselnahmen für angebliche Vergehen von Familienmitgliedern – all das war Kropotkin zuwider, was er auch offen sagte. Das politische Klima war wohl auch ein Grund, weshalb er aus der Stadt ins ländlichere Dmitrow umzog. Doch einmal trafen er und Lenin sich im Kreml.
"Wladimir Bontsch-Brujewitsch, ein Vertrauter Lenins, war bei dem Treffen dabei, hat uns seine Erinnerungen hinterlassen. Lenin sprach über seins, Kropotkin über seins. Als Kropotkin dann klar wurde, dass dieses Gespräch zu nichts führen würde, ist er gegangen. Man schloss die Tür hinter ihm und Lenin sagte zu Bontsch-Brujewitsch: 'Mein Gott, was war er für ein heller Geist. Doch wie hoffnungslos ist er veraltet.'"
In Russland kaum gewürdigt
In der Ideologie der Sowjetunion bekam der Philosoph nur einen Nischenplatz zugewiesen. Nach dem Tod seiner Frau Sophja im Jahr 1941 wurden ihre Hinterlassenschaften – darunter Briefe, Bücher, Zeichnungen, Skizzen, auch Möbel, die eigens aus seinem früheren Londoner Exil herantransportiert worden waren, auf viele verschiedene Archive aufgeteilt. Seitdem gab es keinen zentralen Erinnerungsort mehr – bis im Jahr 2014 in Dmitrow das Museum öffnete. Dort allerdings liegt der Fokus auf den letzten Lebensjahren; die Zeugnisse früherer Lebensjahrzehnte sind weiter nirgends ausgestellt. Obwohl gerade die besonders bedeutsam wären: sowohl was seine wissenschaftlichen als auch seine politischen Werke anbelangt.
Das heute sanierte Holzhaus gibt es vermutlich nur deshalb noch, weil es als Kindergarten und Kulturzentrum genutzt und deshalb nicht abgerissen wurde. Zu sehen sind unter anderem Dokumente, Bücher und eine Büste Kropotkins. Auch dies gäbe es wohl nicht mehr, hätte die Rote Armee die Wehrmacht im Winter 1941 nicht wenige Hundert Meter vor Dmitrow gestoppt – und hätte sich in späteren Jahrzehnten nicht ein entfernter Verwandter Kropotkins des Nachlasses angenommen.
Selektive Erinnerung: Bier und Metro-Station
Und heute? In Südrussland gibt es noch einen eher unbedeutenden Ort, der nach dem Philosophen benannt ist. Die Biografie Kropotkins komme im normalen russischen Schulunterricht so gut wie nie vor, sagt Portnowa. Dann geht sie kurz an einen Kühlschrank und kommt mit zwei Flaschen in der Hand zurück:
"Schauen Sie bitte: Bier! Fürst Kropotkin heißt es. Und dann steht hier: Anarchist, Schriftsteller. Anarchist in großen, Schriftsteller in kleinen Buchstaben. Meinen Sie nicht auch, dass das eine beispiellose Aushöhlung dessen ist, was über diesen Menschen im Gedächtnis sein sollte? Das ist nicht nur Rüpelhaftigkeit, sondern Analphabetismus."
In Moskau tragen eine Seitenstraße und die Metro-Station Kropotkinskaja den Namen des Philosophen. Die Station liegt nahe dem Geburtshaus, in dem heute die Botschaft der Palästinenser untergebracht ist, die in Russland eine quasi-diplomatische Anerkennung genießen. Sein Grab findet sich auf dem Friedhof am Neujungfrauenkloster, wo viele Prominente begraben sind. Auf seinem Grabstein, einem kleinen Obelisken, steht: "Der herausragende wissenschaftliche Reisende". Jemand, wohl aus der anarchistischen Szene, hat auf die Seite des Steins einen kleinen Aufkleber gepappt, auf dem ein Wort zu lesen ist: "autonom".