Andreas Steinhöfel: Anders
Königskinder Verlag, Hamburg 2014
240 Seiten, 16,90 Euro, ab 12 Jahren
Amnesie als Befreiung
Um die 20 Kinder- und Jugendbücher hat Andreas Steinhöfel geschrieben - und alle wichtigen Preise abgeräumt. Sein neuer Roman handelt von einem elfjährigen Jungen, der sein Gedächtnis verloren hat: eine gelungene Gratwanderung zwischen Magie und Alltag.
Anders ist ein elfjähriger Junge. Bis zu einem schweren Unfall, nach dem er neun Monate im Koma lag, hieß er Felix. Doch nach dem Aufwachen, das von einer schweren Amnesie begleitet wird, will Felix nicht mehr Felix heißen, sondern Anders.
Und Anders heißt nicht nur so, er ist auch anders als früher. Der Junge hat zwar sein Gedächtnis verloren, dafür aber viele neue Fähigkeiten gewonnen: Er ist plötzlich Synästhetiker, Menschen oder Musik haben für ihn Farben. Er kann Dinge, die er vorher nicht konnte, Mathe etwa, und er besitzt magische Fähigkeiten, kann den Menschen ins Herz schauen und stößt viele damit vor den Kopf. Und während er früher ängstlich war und angepasst, tut er jetzt das, was er will.
Belastung und Befreiung
Klar, dass das nicht einfach ist für seine Umgebung. Bei allem Verständnis für den Jungen, der ja sein ganzes Leben neu entdecken muss, nervt er mit seinem merkwürdigen Verhalten nicht nur seine Eltern, sondern auch Mitschüler und Lehrer. Außerdem umgibt ihn ein Geheimnis. Irgendetwas Schlimmes muss vor dem Unfall passiert sein und Anders hat es vergessen. Seine Amnesie ist nicht nur eine Belastung, sondern auch eine Befreiung, und die Frage ist, wovon.
Andreas Steinhöfel hat viel gewagt! Zahlenmystik dirigiert die ansonsten realistische Handlung, surreale Szenen und die Legende von der Nixe im Erler Loch in der Lahn geben der Geschichte einen märchenhaften Anstrich. Anders' Hellsichtigkeit wirkt fantastisch, aber der Junge selbst bleibt einem eher fremd. Kühl, mit grauen Augen, beobachtet er die Welt und lässt niemanden an sich heran. Wie es ihm geht, erfährt man nicht, denn man erlebt ihn nur aus der Perspektive anderer.
Gratwanderung zwischen Magie und Alltag
Und trotzdem Steinhöfels Gratwanderung zwischen Magie und Alltag, zwischen verschiedenen Erzählperspektiven und -ebenen geht gut. Sehr sogar!
"Anders" ist ein Experiment: Es geht um die Frage, was passiert, wenn man in einem funktionierenden System etwas austauscht. Und sie wird schmerzhaft klar beantwortet: Alles ändert sich. Dadurch, dass aus Felix Anders wird, gerät nicht nur die Familie durcheinander, sondern das ganze Dorf. Jeder muss seine Erinnerungen und sein Verhalten überprüfen und seine Position neu definieren. Jeder muss nicht nur den alten Felix loslassen und den neuen Anders akzeptieren, sondern auch selbst ein Stück neu anfangen in seinem Leben. Was dem einen besser, dem anderen gar nicht gelingt.
Mal poetisch, mal pathetisch
"Anders" ist kein psychologischer Roman und auch kein fantastischer, kein Märchen und kein Krimi, aber von allem etwas. Vor allem aber ist es ein Buch über das Vergessen und Erinnern, über Schuld und das Erwachsenwerden. In vielen verschiedenen Tonlagen erzählt, mal poetisch oder pathetisch, mal witzig oder wunderbar leicht. In pointierten Bildern, langen, klugen Reflexionen und zauberhaften Beschreibungen der idyllischen Lahnlandschaft, in der Andreas Steinhöfel nun selbst wieder wohnt. Dass am Schluss aus Anders wieder Felix wird, rundet diesen vielschichtigen Roman wohltuend ab.