"Ich muss lernen, der inneren Stimme zu vertrauen"
In seinem neuen Roman "Was aus uns geworden ist" erzählt der Musiker André Herzberg über jüdisches Leben in der DDR. Er habe diesen Teil seiner Identität vor der Wende verborgen. Das Buch erzähle von dieser Selbstverleugnung.
Andrea Gerk: "Aufruhr in den Augen" ist der Titel eines legendären Albums der DDR-Rockband Pankow. Deren Texter und Sänger ist André Herzberg, 1955 in Ostberlin geboren als Spross einer kommunistisch geprägten jüdischen Familie. Nach der Wende hat André Herzberg sich mit seiner jüdischen Herkunft auch literarisch auseinandergesetzt, zunächst in dem autobiografischen Roman "Alle Nähe fern" und jetzt in seinem neuen Buch "Was aus uns geworden ist". Jetzt ist André Herzberg bei mir im Studio. Guten Morgen, schön, dass Sie da sind, Herr Herzberg!
André Herzberg: Hallo!
Gerk: Wir wollen ja eigentlich über Ihren Roman sprechen. Aber als ich mich vorbereitet habe und meinem Mann zu Hause erzählt habe, dass Sie kommen – der ist Ostdeutscher –, fing der sofort an, Lieder von Ihnen zu singen und um den Tisch zu tanzen. Geht Ihnen das immer noch so, dass Sie eigentlich ganz stark damit identifiziert werden?
Herzberg: Na klar, ja. Ich meine, ich bin oft ja auch als Musiker unterwegs, oder wenn ich Lesungen mache, dann singe ich auch. Das eine hängt mit dem anderen zusammen. Und jetzt, zu dem neuen Roman, gibt es ja eben auch ein neues Album, was genauso heißt wie der Roman.
"Geschichtsonkel für die 80er-Jahre"
Gerk: Wie hängt denn das zusammen, wenn Sie da so ein Album zum Roman machen oder den Roman zum Album? Entstehen die Texte, während Sie am Roman schreiben?
Herzberg: Die Liedtexte sind eigentlich eher unabhängig. Aber in diesem Fall habe ich jetzt auch noch einen Song geschrieben, nachdem ich den Roman fertig hatte. Das ist das erste Mal, dass ich sozusagen nach einem Roman, einem Stück Prosa von mir selbst, versucht habe, dazu einen Song zu schreiben. Und ja, ich wollte auch einfach wieder als Musiker sozusagen genannt werden. Das ist so ein bisschen aus dem Fokus gekommen. Die letzten 30 Jahre vergingen damit, dass ich immer als Geschichtsonkel für die 80er-Jahre herkommen muss und über wilde Bandzeiten reden oder mich als Musiker. Ja, ich bin eben beides irgendwie.
"Prosa-Sätze sind wie Musik"
Gerk: Aber man merkt ja auch Ihrer Schreibe an, dass Sie Musiker sind. Lesen Sie sich das laut vor? Weil das hat ja schon einen guten Rhythmus auch.
Herzberg: Ja, ich lese es mir laut vor. Es ist mir gar nicht so bewusst gewesen beim Prosa-Schreiben, wie viel das mit Musik zu tun hat. Gut, es kommt auch direkt Musik vor als Thema oder Lieder oder bestimmte musikalische Stücke, die Bedeutung haben oder hatten für mich. Und dass das Schreiben selbst auch – das wird mir erst immer bewusster. Das haben mir andere gesagt, und ja, jetzt merke ich es selbst. Dieses Schreiben mache ich ja noch nicht so lange. Ich hab nie Literatur studiert und hab erst mal so geschrieben, wie ich dachte, wie es richtig ist. Ich merke aber immer mehr, dass – auch Prosa-Sätze sind wie Musik.
Gerk: Wie kam denn das eigentlich, dass Sie sich so auf einmal nach der Wende dann mit Ihrer jüdischen Identität auseinandergesetzt haben? War da auch so ein Freiraum? Man sagt immer, da ist eine Krise entstanden, dann ging Ihr Bandleben auch nicht so weiter. Aber die Leerstelle kann ja auch ein Freiraum sein, um was zu entdecken, was man vielleicht vorher gar nicht so wahrgenommen hat.
Herzberg: Ja, beides. Man muss ja sagen, im Grunde genommen konnte man in der DDR sich ja jenseits der Ideologie nicht bewegen sozusagen. Da wäre man ja sofort ganz raus gewesen. Und diese jüdische Identität ist sozusagen am Rand, aber von allen Seiten. Es war sozusagen sowohl vom ideologischen Konstrukt der DDR nicht möglich, darüber zu reden, wie es auch sehr schwer war, jedenfalls in meiner Familie, überhaupt frei darüber nachzudenken. Ich bin davon sehr auf eine schizophrene Weise geprägt worden in meiner Kindheit. Das hat lange gedauert, und ich habe auch die Hilfe von so was wie Psychoanalyse gebraucht, um das überhaupt sozusagen aus mir zu befreien.
Gerk: In dem Roman gibt es sechs Figuren, die Sie erzählen lassen, die Sie beobachten. Das ist zum Teil auch, nehme ich an, die Generation Ihrer Eltern, vor allem am Anfang, die dann aus dem Exil auch von der Partei geholt werden, und die aber gar nicht so ein Bewusstsein für ihr Jüdischsein oft haben.
Herzberg: Sie haben es schon, aber sie verbergen es. Es geht im Grunde genommen – der Roman, ich hab das auch in dem Prolog des Buchs beschrieben – der geht genau darum. Es geht um das sorgsame Verbergen eines Teils seiner Mentalität, seiner ganzen Geschichte, eine Selbstverleugnung. Darum geht es.
Ersetzte der Glaube an die Partei den Glauben an Gott?
Gerk: Das heißt, da hat der Glaube an die Partei den Glauben an Gott ersetzt?
Herzberg: Auch das. Nach '45 haben sicherlich kaum Juden sofort sehr offen über das gesprochen. Das war ja sozusagen dieser Schutzmechanismus, der bestand ja weiterhin, möglichst das zu verbergen, wer sie sind. Wenn sie denn eben überhaupt überlebt hatten. Da spielen eine ganze Reihe von Motiven eine Rolle.
Gerk: Sind denn diese Stimmen, die Sie da hörbar machen in dem Roman, sind das Stimmen, die Sie der Realität so abgelauscht haben, oder waren Sie auch in Archiven und haben dann noch mal historische Dokumente recherchiert?
Herzberg: Beides. Ich will es mal so beschreiben: Angefangen habe ich, mich an einer scheinbaren Realität abzuarbeiten. Natürlich habe ich im Lauf der Jahre, abgesehen von meiner eigenen Familiengeschichte, mich mit vielen Büchern und allen möglichen äußeren Quellen beschäftigt. Es war auch ein schwieriger Prozess, zu sagen, nein, ich muss auch lernen, der eigenen inneren Stimme zu vertrauen und zu sagen, ich nutze auch so was wie Fiktion.
Schlüsselerlebnisse: Reisen nach New York und Israel
Gerk: Wie hat sich das denn noch mal nach der Wende dann auch in dieser Zeit für Sie verändert? Es war ja sicher was anderes, sagen wir mal 1991 zu sagen, ich bin jüdisch, zu heute.
Herzberg: Absolut. Es gibt immer so Schlüsselerlebnisse, die ich hatte. Was das Jüdischsein angeht, gab es die auch schon in der DDR natürlich. Es stimmt auch nicht ganz, dass ich nicht auch schon zu DDR-Zeiten sowohl in der Familie als auch – es gab ja so, wie ein Auftritt als Wehrmachtssoldat mit der Band in den 80er-Jahren, oder damals, als die Synagoge in Ostberlin wieder aufgebaut werden sollte, habe ich so ein Konzert organisiert, wo alle möglichen Kollegen mitgespielt haben. Aber so ein äußeres Erlebnis war zum Beispiel, als ich in New York war kurz nach dem Fall der Mauer und in der Öffentlichkeit das erste Mal so ein Zeichen gesehen habe, "Happy Chanukka!". Praktisch im öffentlichen Raum ein Schild, dass ein jüdisches Fest begrüßt wird. Selbst in der Bundesrepublik war das auch unüblich in den 80er-Jahren.
Auch da sozusagen – aber außerhalb Deutschlands war das plötzlich so. Und das hat mich umgehauen, dass es so was gibt. Und dann natürlich, als ich das erste Mal nach Israel gefahren bin. Das war sehr berührend, weil das war ja eine Verwandtschaft von meinem Vater, der da nie hingefahren wäre als guter Kommunist zu den Zionisten. Aber auf der anderen Seite waren Leute, die im Kibbuz gelebt haben, die erste Generation, die eben noch Deutsch gesprochen hat. Wo so eine wahnsinnige Nähe war auch zu dem, was DDR war, weil diese Kibbuzim ja auch diese urkommunistischen Prinzipien übernommen haben. Das war überwältigend.
Gerk: Wie erleben Sie das denn jetzt? Es wird ja wieder viel über Antisemitismus gesprochen. Es gab Fälle, wo Lokale überfallen wurden, in Chemnitz, aber auch schon davor in Berlin. Wenn dann so Debatten entstehen darüber, verfolgen Sie das, bewegt Sie das?
Herzberg: Auf der einen Seite verfolge ich es, auf der anderen Seite habe ich immer das Gefühl, dass das irgendwie auch eine unglaubliche Absurdität darstellt. Das hat, glaube ich, sehr viel mit der deutschen Befindlichkeit zu tun, die ja auch sozusagen stark ist, sich damit auseinanderzusetzen, was bedeutete diese Nazizeit.
Gerk: Können Sie da eine Linie erkennen vom Umgang mit Juden in der DDR zu dem, was jetzt in Ostdeutschland sich da zum Teil abspielt? Gibt es da eine Kontinuität?
Herzberg: Das ist ganz schwierig zu sagen. Ob es das gibt? Das mag so sein, das ist auch ein Aspekt. Aber es gibt ja auch ganz berechtigte Dinge. Sie meinen jetzt diese Bewegungen und so weiter ...
Gerk: ... fremdenfeindliche und antisemitische Äußerungen.
Herzberg: Ja, das gibt es auch. Aber es ist nur ein Teil.
Gerk: Ist es denn heute einfacher für Sie, jüdische Identität zu leben?
Herzberg: Absolut. Es ist viel einfacher, viel besser. Und dadurch, dass man eben in Freiheit lebt, ist das wirklich gar kein Vergleich mit dem, was in der DDR war.
Buch und Musik-CD: "Zwei Seiten einer Medaille"
Gerk: Kommen wir noch mal auf den Titel Ihres Romans "Was aus uns geworden ist". Sie haben ja schon gesagt, es gibt auch eine CD dazu. Wir hören auch gleich noch was daraus. Und Sie machen auch jetzt die Buchpräsentation im Theater am Pfefferberg mit Konzert. Das wird was Besonderes, oder?
Herzberg: Das wird es, jedenfalls für Leute, die zu literarischen Lesungen gehen, passiert das eben wahrscheinlich nicht so oft. Ich hab eine neue Band am Start, die eben jetzt mein neues Soloalbum auf großartige Weise begleitet haben, und werde also im zweiten Teil die Lieder von diesem neuen Album präsentieren. Für mich sind das zwei Seiten einer Medaille. Einmal dieses Introvertierte, dieses Lesen, und das andere ist eben dieses Expressive, was ich immer gern gemacht habe, was sehr viel mit meinen Gefühlen zu tun hat, dieses Nach-außen-gehen und Lieder, tanzen und spielen und singen.
Gerk: André Herzberg, vielen Dank! "Was aus uns geworden ist" heißt der Roman, der bei Ullstein erschienen ist. 240 Seiten kosten 22 Euro, und es gibt, wie gesagt, am 15. November eine Lesung mit Konzert um 19:30 Uhr im Berliner Pfefferberg-Theater.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.