Andrea Camilleri: "Gewisse Momente"

Zwischen Komik, Tragik und blanker Skurrilität

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Zeichnet ein feines, vielfach durchbrochenes Zeitbild: der Autor und Regisseur Andrea Camilleri. © imago / El Mundo / Kindler Verlag
Von Irene Binal |
Der Autor und Regisseur Andrea Camilleri erzählt in seinem neuen Buch berührende Anekdoten aus seinem Leben. Doch nicht sich selbst will er ein Denkmal setzen - sondern den Menschen, die ihn beeinflusst, gelenkt, unterstützt und manchmal auch behindert haben.
Ein gefährlich aussehender Mithäftling, der sich als Beschützer entpuppt, eine faschistische Provinzgouverneurin, die möglicherweise den Antifaschismus unterstützt, perfektionistische Bühnenbildner, abergläubische Schauspieler und eine lebenslange Feindschaft mit Pier Paolo Pasolini: Unter dem Titel "Gewisse Momente" hat Andrea Camilleri zahlreiche Begegnungen und Begebenheiten aus seinem Leben zusammengetragen, manche humorvoll, andere berührend, einige bizarr – Momente, die, "eine Art Kurzschluss in mir auslösten", wie Camilleri in der Vorbemerkung schreibt: "Das heißt, sie führten zunächst zu einer vorübergehenden Distanz und dann zu größerer Helligkeit in meinem Geist."
Es sind sehr persönliche Einblicke in ein Leben, das fast ein Jahrhundert umspannt. Camilleri erzählt so manches aus seiner Jugendzeit, bevor er zum weltberühmten Autor und Regisseur avancierte: Er erinnert sich daran, wie ein Buch ihn dazu brachte, dem Faschismus abzuschwören und sich zum Kommunismus zu bekennen, an die Schwester eines Freundes, die ihm den Zauber der Lyrik erschloss, an die wunderbare Rettung eines mit seinem Vater befreundeten Kapitäns oder an seine Freundschaft mit dem Schriftsteller Antonio Tabucchi, die viele Jahre andauerte, ohne dass sich die beiden Männer je getroffen hätten.

Wie glitzernde Perlen an einer Kette

All diese Geschichten umfassen kaum je mehr als ein paar Seiten, kleine, mit feinem Pinsel hingetupfte Impressionen, die sich wie glitzernde Perlen an einer Kette aneinanderreihen. Camilleri möchte nicht beeindrucken, und eben darum sind seine skizzenhaften Erinnerungen umso beeindruckender, schwankend zwischen Komik (wenn Camilleri einen widerspenstigen Bühnenbildner ins Gesicht schlägt und ausgerechnet der Patriarch von Venedig zusieht, der wenige Tage später zu Papst Johannes XXIII. gewählt wird), Tragik (wenn das Dienstmädchen Pina einen Mordplan schmiedet, um sich und die Familie vor den deutschen Besatzern zu beschützen) und mitunter blanker Skurrilität, wie in der Geschichte von Camilleris Kommilitonen Lucio, der gern Fliegen isst und an Exkrementen schnüffelt.
Andrea Camilleris kleine Erzählungen sind bunt wie das Leben selbst, vielfältig und bezaubernd und ganz und gar unprätentiös: Nicht sich selbst will der Autor ein Denkmal setzen, sondern den Männern und Frauen und Büchern, die ihn beeinflusst, gelenkt, unterstützt und manchmal auch behindert haben, und die ihm damit zu mehr innerer Klarheit verhalfen.

Kluger Beobachter der "gewissen Momente"

Dieser charmante Reigen aus Anekdoten und Histörchen fügt sich letztlich zu so etwas wie einem vielfach durchbrochenen Zeitbild zusammen, in dem das Liebäugeln eines jungen Mannes mit seiner Angebeteten denselben Stellenwert einnimmt wie eine Begegnung mit dem Philosophen Benedetto Croce oder das tragische Schicksal der Prostituierten Foffa. Ganz bewusst löst Camilleri Grenzen auf, schert sich nicht um Glanz und Titel und erweist sich als kluger Beobachter der gewissen Momente – jener Momente, die das Fundament für ein ganzes Leben bilden.

Andrea Camilleri: "Gewisse Momente"
Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki
Verlag Kindler, Hamburg 2018
171 Seiten, 22 Euro

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