Andrea Grill: "Cherubino"
Zsolnay Verlag, Wien 2019
317 Seiten, 23 Euro
Eine Frau flieht vor ihrer Schwangerschaft
05:27 Minuten
Eine Sängerin, die zwischen zwei Männern steht, wird schwanger − doch sie weigert sich, zwischen Kind und Karriere zu entscheiden. In ihrem Roman "Cherubino" entmythisiert Andrea Grill das Bild der selbstbestimmten Frau.
Die freiberufliche Mezzosopranistin Iris ist 39 Jahre alt, kein Star, aber eine gute Sängerin. Seit Jahren ist sie mit dem Tenor Sergio zusammen, daneben trifft sie regelmäßig den verheirateten Ludwig, den sie über alles liebt, der aber nicht daran denkt, für sie seine Familie aufzugeben. Dieses Lebenskonstrukt zeigt Risse, als sich die Ereignisse plötzlich überschlagen: Iris soll in der Rolle des Cherubino in "Figaros Hochzeit" an der New Yorker Met debütieren, sie erhält ein Angebot für eine Hauptrolle bei den Salzburger Festspielen und zu allem Überfluss erfährt sie, dass sie ein Kind erwartet – wobei sie nicht sagen kann, welcher ihrer beiden Männer der Vater ist.
Ein zerrissener Charakter
Andrea Grill ist eigentlich Biologin, und ein bisschen klingt dieser Hintergrund in ihrem Roman an, wenn sie die Abhängigkeit der Sängerin von ihrer Physis, ihrer Stimme thematisiert: "Wollte sie gut sein, musste sie die Zerbrechlichkeit des menschlichen Körpers ausblenden. Ihr Beruf war: unsterblich auftreten." Die Schwangerschaft gefährdet Iris‘ Engagements, weshalb sie kaum jemandem davon erzählt, nicht ihrer Agentin, nicht den Intendanten, nur den potenziellen Vätern, die unterschiedlich reagieren: Während Sergio den stolzen Vater gibt, zeigt sich Ludwig so erschrocken, dass Iris ihn trösten muss, obwohl er sie eigentlich verletzt.
In einer ausdrucksstarken, mal lakonischen, dann wieder kunstvoll gedrechselten Prosa lotet Andrea Grill die Schwierigkeiten einer modernen Frau aus, die ein Ikea-Bett zusammenbauen kann und allein wohnen, aber nicht allein leben will. Wie der Cherubino in Mozarts Oper ist Iris ein zerrissener Charakter: Sie möchte ihr Leben gestalten, ihre Karriere vorantreiben, gleichzeitig sehnt sie sich nach Liebe, die sie bei Ludwig sucht und nur bei Sergio findet.
Sie empfindet Zärtlichkeit für ihr ungeborenes Kind, will aber nicht auf ihre Auftritte verzichten, versteckt ihren Babybauch unter weiten Mänteln und ignoriert die Tatsache, dass der Geburtstermin mit der Premiere in Salzburg kollidiert. Ihre Unabhängigkeit ist für Iris gleichermaßen Segen und Fluch. Die Freiheit, selbst zu entscheiden, wird oft zum Zwang, allein entscheiden zu müssen.
Frauenporträt und Opernroman
All das liest sich zu Beginn ein bisschen schwerfällig, aber aus der Hand legen sollte man das Buch deshalb nicht: Im Lauf der Erzählung gewinnt der Text an Fahrt, entwickelt einen reizvollen Sog, der nicht aus einer übersprudelnden Handlung resultiert, sondern aus genauen Beobachtungen und detailreichen Schilderungen. Gesellschaftsbetrachtung und Frauenporträt, Liebesgeschichte und Opernroman – all das steckt in Andrea Grills Prosa, die das Bild der selbstbestimmten Frau entmythisiert und sich mit dem befasst, was dahinter steckt.
Wenn Iris mit Sergio telefoniert und an Ludwig denkt, wenn sie ihre Angst vor dem Altern unterdrückt (denn sie ist noch nicht berühmt genug, um es sich erlauben zu können) und sich mit antrainierter Coolness panzert, werden in ihr viele Frauen erkennbar, deren äußere Stärke sich als zweischneidiges Schwert erweist. Denn wie Iris irgendwann feststellt: Adjektive wie "unverwüstlich" oder "ausdauernd" können Medaillen sein, aber auch Bremsbeläge.