Erinnerungen, die ungebeten ins Bewusstsein dringen
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Die Schriftstellerin Andrea Scrima erforscht in ihrem neuen Roman "Kreisläufe", wie Eltern Traumata an ihre Kinder vererben. Durch fragmentiertes Erzählen versucht die Amerikanerin, im Schreiben der Funktionsweise des Gedächtnisses nahezukommen.
Ein Kaffeefleck auf dem weißen Herd, Spuren im überfrorenen Schnee: Es sind Alltagsbeobachtungen, aus denen Andrea Scrima in ihrem neuen Roman Poesie schöpft. Präzise, ästhetische Beschreibungen rufen Bilder vor unser inneres Auge, die vertraut sind – und die wir doch so noch nie gesehen haben. Sie werden zu Metaphern für die Zeit, das Kommen und Gehen unserer Erinnerungen.
Denn darum dreht sich "Kreisläufe", das zweite Buch der 1960 geborenen Amerikanerin, die auch als bildende Künstlerin häufig mit Textelementen arbeitet: um unser Gedächtnis, um Traumata, die von Generation zu Generation weitergegeben werden und um die Kunst als Versuch, all das, wenn nicht zu bewältigen, dann zumindest zu verstehen.
Abtauchen in Erinnerungen
Dieses Ziel teilt die Wahl-Berlinerin Andrea Scrima mit ihrer Ich-Erzählerin Felice. Die Künstlerin, die vor ihrer Familie aus New York nach Berlin geflohen ist und später mit Depressionen kämpft, ist der Fixpunkt dieses kreisenden Romans, der sich einer chronologischen Struktur verweigert. Wie schon ihr Debüt "Wie viele Tage", das 2018 auf Deutsch erschien, spielt auch das neue Buch zwischen Deutschland und Amerika.
"Kreisläufe" taucht – ausgehend von unterschiedlichen Gegenwartsebenen – in Erinnerungen ab, aus denen sich nach und nach ein Bild von Felices Kindheit und Familie erschließt: lückenhaft und unvollständig wie ein Puzzle, bei dem Teile fehlen. Da ist die cholerische, fettleibige Mutter, vor deren Wutausbrüchen sich die Erzählerin noch als Erwachsene fürchtet. Und der schweigsame Vater, der Ausgaben akribisch in seinem Kalender dokumentiert, inklusive Mehrwertsteuer, und sich selbst einmal wünschte, Künstler zu werden.
Etwas dringt an die Oberfläche
Doch erst Felice macht diesen Traum wahr. Die Autorin lässt sie im Roman Kunstwerke schaffen, die Arbeiten der echten Andrea Scrima ähneln: Gemälde mit viele Farbschichten etwa, unter deren Oberfläche etwas Übertünchtes durchschimmert. Ein treffendes Bild dafür, wie die Vergangenheit unsere Gegenwart prägt. Zwischen den Zeitebenen öffnen sich immer wieder "Büchsen" der Erinnerung, wie es im Roman heißt.
Und wie bei der mythologischen Büchse der Pandora – ein Motiv, dem sich Andrea Scrima 2017 in ihrer Kurzgeschichte "Pandora’s Children" gewidmet hat – kommt viel Unangenehmes ans Licht, wenn der Deckel aufgeht. Gewalt, psychische Krankheit, Nebenwirkungen von Antidepressiva macht der Roman zum Thema – und das in einer fragmentierten Erzählform, die versucht, der Funktionsweise unseres Gedächtnisses nahezukommen.
Unvermittelt und bruchstückhaft
Doch anders als es das Bild der Büchsen suggeriert, suchen wir aber oft nicht aus, woran wir uns erinnern wollen. Dessen ist sich die Autorin bewusst: Manche Büchsen glichen eher Schnellkochtöpfen oder nicht detonierten Bomben, schreibt sie. So wie viele Erinnerungen ungebeten ins Bewusstsein dringen – geweckt durch ein Geräusch oder einen Geruch wie bei Prousts berühmter Madeleine im Tee – so tauchen im Roman neue Handlungsstränge unvermittelt auf, um meist bruchstückhaft zu bleiben.
Wer eine klassisch auserzählte Geschichte sucht, ist deshalb bei diesem Roman falsch. Aber es lohnt, sich einzulassen auf dieses kluge Buch über Kunst und Trauma. Sogar ein Kaffeefleck kann nach der Lektüre anders aussehen.
Andrea Scrima: "Kreisläufe"
Aus dem Amerikanischen von Christian von der Goltz und Andrea Scrima
Droschl, Graz 2021
320 Seiten, 24 Euro