Andreas Kossert: "Flucht. Eine Menschheitsgeschichte"
Siedler Verlag, München 2020
432 Seiten, 25 Euro
Jeder Mensch kann Flüchtling werden
05:41 Minuten
Andreas Kossert sammelt in seinem neuen Buch die individuellen wie auch die allgemeinen Erfahrungen von Flüchtlingen über die Jahrhunderte. Der Historiker bringt sie all jenen nahe, denen eine Flucht erspart geblieben ist.
Unzählige Menschen waren auf der Flucht oder sind es in diesem Augenblick. Sie wissen, was das heißt: ein Flüchtling zu sein. Wir anderen wissen das nicht. Aber Andreas Kosserts Buch lässt uns auf zugleich brillante und beklemmende Weise an den existenziellen Erfahrungen der Flüchtlinge teilhaben.
Die Angst, es könnte einen selbst treffen
Nein, nicht der "Geflüchteten"! Laut Kossert ist dieser Begriff verharmlosend, weil er "die Erfahrungen von Gewalt, Willkür und Schutzlosigkeit kaum zu erfassen vermag" und zudem suggeriert, mit der Ankunft sei das Thema erledigt. Ist es nicht.
Kossert beleuchtet den Weg von Flüchtlingen bis hin zu der Frage, wann sie in der neuen Umgebung wirklich angekommen sind – viele kommen nie an. Im Übrigen konstatiert er eine Gemeinsamkeit aller Menschen: "Jeder kann morgen ein Flüchtling sein."
"Flucht. Eine Menschheitsgeschichte" ist ein zweiteiliges Projekt. Zunächst erzählt Kossert "die endlose Geschichte der Flucht". Und zwar von der mythologischen Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies über vormoderne Vertreibungen und die Sklaverei bis hin zu den enormen Fluchtbewegungen des 20. Jahrhunderts und den "Flüchtlingsströmen" der Gegenwart.
Flucht ist eine geschichtliche Konstante. Genauso wie der Argwohn derer, zu denen die Flüchtlinge flüchten. Sie fühlen sich seit jeher überwiegend bedroht. Kossert macht dafür weniger die Sorge um den eigenen Wohlstand verantwortlich als vielmehr die Angst, man selbst könne ein ähnliches Schicksal erleiden. Eine bedenkenswerte Abweichung von der Standarderklärung.
Zeugnisse von individuellen Erfahrungen
So dicht und informativ der welthistorische Überblick ist – er kann nur skizzenhaft bleiben. Im zweiten Teil aber wird die Darstellung konkret, packend und erschütternd. Kossert wertet zahllose Zeugnisse von Flüchtlingen aus: Briefe, Tagebücher, Erinnerungen, Autobiografien, außerdem auch Romane, Erzählungen und Gedichte – ungewöhnlich für einen Historiker. Aber Kossert meint, dass Literatur "gerade zum Heimatverlust viel zum Erkenntnisgewinn beitragen kann."
Wer den Begriff "Heimat" verdächtig oder überholt findet, dem sagt Kossert mit dem KZ-Überlebenden Jean Amery: "Man muss Heimat haben, um sie nicht nötig zu haben." Die Zeugnisse geben stets individuelle Erlebnisse und Einsichten wieder. Um die politischen Hintergründe der Fluchtursachen, um Kriegsverläufe, Gewaltregime und zivile Hilfsorganisationen geht es ausdrücklich nicht.
Kossert kehrt den Fokus also um. Er reicht den Betroffenen das Wort. Er ordnet und kommentiert die Zeugnisse aus vielen Jahrhunderten und mehreren Kontinenten entlang des typischen Verlaufs einer Flucht: vom Weggehen/Fliehen/Vertrieben-Werden bis hin zum Ankommen/Weiterleben/Erinnern.
Im Kern gleiche Erfahrungen
Es zeigt sich: Trotz völlig unterschiedlicher Umstände teilen fast alle Flüchtlinge die gleichen Erfahrungen – Angst, Verlust, Schmerz, Überforderung, Feindseligkeit und mehr. "Irgendwann hält man an und sitzt nur noch, und dann ist gerade noch das Leben vom Leben übrig, und alles andere liegt in vielen Gräben vieler Straßen...", schrieb Jenny Erpenbeck.
Kossert ist kein Aktivist, doch eine Botschaft ertönt in seinem gewaltigen, aufrührenden Buch: "Am Umgang mit Flüchtlingen lässt sich ablesen, welche Welt wir anstreben."