Andreas Maier: "Der Ort"
Suhrkamp Verlag, Berlin 2015
153 Seiten, 17,95 Euro.
Von Gefühlen aus der Welt katapultiert
Der vierte Roman von Andreas Maiers hessischer Heimatsaga handelt von der Liebe. In "Der Ort" schleudert das Zusammentreffen mit Katja den jugendlichen Helden in ein entrücktes Zwischendasein - wo er sogar über die eigene Unterhose philosophiert.
Mit "Der Ort" legt der in Hamburg lebende Andreas Maier nach "Das Zimmer", "Das Haus" und "Die Straße" nun den vierten Teil seiner Heimatsaga vor. Unausweichlich scheint eine Ortsumgehungsstraße das Schicksal von Friedberg in der Wetterau zu besiegeln. Das ruft den Autor auf den Plan, der es sich vorgenommen hat, in - geplant - elf Romanen zu bewahren, was droht, unwiderruflich verloren zu gehen: Wenn Maier sich erinnert, dann schreibt er auch gegen das im Hintergrund deutlich vernehmbare Läuten des Totenglöckchens an.
Profan, zuweilen aber durchaus auch sakral geht es in "Der Ort" zu. Wir begegnen in dem Roman einem Icherzähler, der zwischen 15 und 18 Jahre alt ist. Als 15-Jähriger wird er von der Liebe erfasst, und als18-Jähriger überlegt er, ob er sich nicht in der Hollarkapelle das Leben nehmen soll. Es ist die Liebe, die den bis dahin durchaus bodenständig durchs Leben Wandelnden aus der Bahn wirft. Der Umstand selber ist bereits in unzähligen Roman wieder und wieder durchdekliniert worden. Doch Maier wäre nicht einer der bedeutenden Autoren der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, würden ihm dazu nicht mehr als süßlich-schmatzende Pennälerträumereien einfallen.
Das Aufeinandertreffen zweier Körper im Raum
Er vergleicht das Liebesereignis in "Der Ort" mit dem Aufeinandertreffen zweier Körper im Raum. Durch den Zusammenprall wird sein Protagonist aus der Ersten Person, die bislang seine Existenz ausmachte, herausgeschleudert. Beschrieben wird nun jenes Zwischendasein, ein Zustand vermeintlicher Ortlosigkeit. Denn sofort findet der Icherzähler nicht in jene Zweite Person, die sein Dasein künftig ausmachen wird. In diesem der Zeit entrückten grammatikalischen Schwebezustand ist er weder ganz der Wirklichkeit verhaftet noch ist er ganz bei sich. Und nur aus dieser Distanz, in der er sich zur realen Welt befindet, erklärt sich eine der absurdesten, aber zugleich auch schönsten Passagen des Buches, wenn Maiers Protagonist eine philosophische Betrachtung über seine Unterhose anstellt.
Angezogen wird der wie ein Radikal freigesetzte Protagonist von Katja Melchior. Die Liebe zu ihr ist die Ursache dafür, dass er sich von dem einstigen Ich, das er war, entfernt. Für diesen Vorgang bietet die Sprache den Begriff Pubertät an. Andreas Maier allerdings übersetzt ihn in Literatur, wenn er beschreibt, welche Kräfte bei dieser Verwirrung der Gefühle wirken. Sie können einen Körper aus der Bahn werfen, und sie haben doch ein Zentrum, einen Ort, an dem dies alles passiert. Ein Verschwinden dieses Ortes würde die Erinnerungen bedrohen, die ortlos werden würden. Deshalb stellt Maier diese erzählerische Verbindung zwischen dem Ort und den Erinnerungen immer wieder her, geht sein Erzähler den Spuren der eigenen Vergangenheit nach, die er nur an diesem Ort finden kann.
Es bleibt zu hoffen, dass Maier bei seinem Langzeitprojekt nicht der Atem ausgeht. Heimatliteratur im herkömmlichen Sinn schreibt er nicht, vielmehr schreibt er über die Bindung an eine Gegend, und dies so, dass es in seinen Texten nie anheimelnd zugeht.