"Die Universität" erscheint am 12.2.2018
Suhrkamp-Verlag, 147 Seiten, 20 Euro
Das Hamsterrad der Ortsumgehung
Mit dem Roman "Die Universität" setzt Andreas Maier seine Erinnerungschronik fort, die bereits aus fünf Büchern besteht. Seine Figur wird in "Die Universität" erwachsen, verrät der Schriftsteller – und begegnet dabei einer berühmten Dame.
Joachim Scholl: "Das Zimmer", "Das Haus", "Die Straße", "Der Ort", "Der Kreis" – das sind die kargen Titel von fünf Romanen. Alle sind Teil einer literarischen Autobiografie, die der Schriftsteller Andreas Maier seit Jahren vorantreibt. Jetzt erscheint die nächste Lieferung, der Roman "Die Universität". Der ganze Zyklus spielt in Hessen, aktuell hauptsächlich in Frankfurt am Main, wo Andreas Maier jetzt in einem Studio sitzt. Guten Morgen, Herr Maier!
Andreas Maier: Ich grüße Sie!
Scholl: Seit Ihrem literarischen Durchbruch mit dem Roman "Wäldchestag" im Jahr 2000 gibt es in meinem Bekanntenkreis eine eingeschworene Maier-Fangemeinde. Ich persönlich habe erst mit dem "Zimmer" begonnen, Sie zu lesen, dann aber konnte ich auch nicht aufhören. 2010 war das, der erste von diesen geplanten elf Romanen unter dem Arbeitsobertitel "Ortsumgehung". Für alle, die vielleicht jetzt neu dazustoßen wollen, was ist das für ein Projekt, Herr Maier?
Maier: Na ja, Sie haben es selbst eben Autobiografie, aber dann Romanprojekt genannt. Das ist ja im Grunde genommen ein hölzernes Eisen, das geht ja eigentlich nicht zusammen. Ich habe am Anfang meiner literarischen Karriere vier größere Romane geschrieben. Das war alles fiktional, aber da war natürlich auch sehr viel von eigenem, erlebtem Material drin. Und im Jahr 2009, 2010, als ich die "Ortsumgehung" angefangen habe zu schreiben, habe ich das sozusagen gekippt. Ich habe das Fiktionalisieren aufgegeben, aber andererseits verwende ich das Material so frei, dass Sie einzelne meiner Romanfiguren, die ja teilweise konkret herumlaufen, mal fragen könnten, zum Beispiel die berühmte Buchhändlertochter, ob sie eins zu eins ins Buch gekommen ist. Und dann – sie war damit auch schon mal im Radio ...
Scholl: Sehnsuchtsfigur, die zentrale, ja.
"Hamsterrad der Ortsumgehung"
Maier: Sie streitet das natürlich in gewisser Weise aus guten Gründen ab, weil sie natürlich nicht eins zu eins auf dem Papier ist.
Scholl: Jetzt also Band sechs, die halbe Strecke ist bewältigt. Wie fühlt man sich denn da, mittendrin im "Hamsterrad der Ortsumgehung" – so haben Sie es selbst mal genannt?
Maier: Ja, das Wort kam mir schon ab Band drei, Band vier. Ich habe ja gemerkt, dass im Lauf des Schreibens ich immer älter werde, und ich habe eine gewisse Ziel- und Zeitprognose. Ich vermute mal, dass ich noch sechs, sieben Jahre brauche. Dann bin ich immerhin 57, 58. Angefangen habe ich, als ich 42 war. Also dauernd schon das 58. Lebensjahr mit 42, 43 vor sich zu sehen, ist nicht so schön. Aber das habe ich mir halt selbst eingebrockt.
Scholl: Nun werden manche Hörer jetzt vielleicht bei so einem Projekt an ein anderes denken, das derzeit Weltkonjunktur hat. Karl-Ove Knausgard, der Norweger mit seinem Riesenwerk "Mein Kampf". In Deutschland schreibt Gerhard Henschel auch schon seit 15 Jahren seine Lebensstationen in einem Roman nach dem anderen. Herr Maier, Sie sind nun wirklich völlig unverdächtig, auf irgendwelche Trends zu schielen, aber der Kontext ist ja da. Macht Ihnen das was aus, oder denken Sie, Mensch, ich bin jetzt auch in so einem Schreibkosmos, der momentan ja richtig ankommt? Merken Sie da was von?
Maier: Ja, ich merke da natürlich schon was von. Allein in den Rezensionen werde ich da ja auch öfters mal in einer Reihe gesetzt. Ich sehe mich so in dieser Reihe nicht – das wäre ein anderes Thema. Zu Knausgard – ich meine, als ich angefangen habe, gab es Knausgard überhaupt noch gar nicht. Ich sehe konkrete Vorbilder bei mir, bei denen ich mich eher einreihen würde und die schon vor Henschel und mir und Meyerhoff, heißt er, glaube ich, den ich aber auch nicht gelesen habe. Ich habe Henschel auch nicht gelesen.
Scholl: Thomas Bernhard meinen Sie wahrscheinlich?
Maier: Nein, ich meine Peter Kurzeck und Arnold Stadler. Arnold Stadler hat ja auch immer ein sehr autobiografisch verbrämtes fiktionales Erzählen gehabt, und ebenso wie ich hat er auch eine starke Polemik in seiner Prosa drin und eine Auseinandersetzung mit Welt.
Die Titel der elf Romane stehen schon lange fest
Scholl: Wir haben natürlich auch an Thomas Bernhard gedacht, so die Jugendschilderungen, die er da in den 70er- bis Anfang der 80er-Jahre veröffentlicht hat. Sie sind ja ein Thomas-Bernhard-Experte, eine Arbeit über ihn hat Sie zum Doktor gemacht. Der ist aber dann doch weniger so im Orbit der Vorbilder?
Maier: Nein. Was ich bei Bernhard immer gemocht habe, ist dieses blockhaft Mächtige, mit dem die Texte so einherkommen. Ich habe mich im Schreiben davon allerdings – der "Wäldchestag" lief etwa so – ziemlich lange verabschiedet. Aber natürlich, solche Titel hinzusetzen wie "Zimmer", "Das Haus" ...
Scholl: ... "Der Ort" ...
Maier: ... "Die Straße" ...
Scholl: ... "Der Kreis" ...
Maier: Das hat schon eine gewisse Klassizität, auf die der Bernhard sich zu seiner Zeit auch draufgesetzt hat.
Trial und Error
Scholl: Ihr Erzähler erobert sich allmählich immer größere Räume, also vom Zimmer zum Haus, zur Straße, in den Ort. Jetzt geht es also in die Universität. Herr Maier, das ist ja zum ersten Mal mehr ein geistiger Raum, jenseits der Örtlichkeiten. Wie haben Sie sich den erschlossen?
Maier: Durch Trial und Error, wie immer. Am Anfang – Sie müssen wissen, ich habe ja für die ganze "Ortsumgehung" eine Titelliste. Für mich besteht das Projekt darin, dass ich im Jahr 2009 einfach mal elf Titel aufgeschrieben habe, die ich jetzt abarbeite. So wusste ich also schon vor Jahren, irgendwann kommt das Buch "Die Universität", und angefangen habe ich erst mal so atmosphärische Szenen in der Universität zu schreiben, wie ich als 13-Jähriger mit meinem Bruder in der Mensa zum ersten Mal war und das alles angehimmelt habe, die große weite Welt an der Universität. Alles das ist das Buch dann überhaupt nicht geworden. Aber so habe ich erst mal begonnen zu umkreisen, was mich an dem ganzen Thema eigentlich interessieren könnte. Und schließlich ist es ein Buch geworden, in dem die Universität insofern eine Rolle spielt, als dass ich der erzählten Person, die man ja aus den anderen Büchern kennt, hier zum ersten Mal eine Art von Schritt ins erste Erwachsenenleben rein machen muss.
Scholl: Der Held ist ja doch sehr existenzialistisch-seinsverdrossen drauf. Also ein zentraler Satz heißt irgendwie "Ich, das ist der Mittelteil des Wortes 'nichts'" – da muss man auch erst mal drauf kommen. Diese Stimmung, wenn man Anfang 20 ist, waren Sie da ähnlich so drauf, haben Sie sich auch so nichtig gefühlt? Also, man ist kein Jugendlicher mehr, aber auch noch kein Erwachsener, irgendwie ein komischer Zwischenzustand.
Maier: Also der Satz "Ich, das ist der Mittelteil des Wortes 'nichts'", der ist eigentlich ein Selbstzitat aus meinen Poetikdozenturen. Ich strebe immer an, so ein bisschen Querverbindungen in meinen Werken herzustellen. Die Zeit damals war für mich als konkret lebendige Person noch viel schlimmer, als das in dem Buch beschrieben wird. Aber diese Düsterkeit und völlige Ratlosigkeit überhaupt mal atmosphärisch einzufangen und erträglich zu machen ... Sie müssen sich vorstellen, bislang haben meine Bücher ja ein Kind, einen Jugendlichen umkreist. Und jetzt kommt jemand auf uns zu, der nicht mehr so schutzflankiert ist durch Kind und Jugend – denen verzeiht man ja vieles. Der hier, den wir jetzt auf dem Papier haben, der kann ganz schnell peinlich werden. Und das, trotz dieser Gefahr, ich zumindest diese Atmosphäre andeuten konnte, wenn mir das gelungen ist, bin ich schon sehr zufrieden.
Begegnung mit der greisen Gretel Adorno
Scholl: Ich muss sagen, ich habe auch Anfang 20 studiert, und ich konnte mich so gut in ihn hineinversetzen. Auch so dieser Abschreckungsraum, der die Universität ja sein kann, vor allem so diese geisteswissenschaftlichen Seminare, wo immer irgendwelche Hotshots da sitzen, die alles kennen. Man fühlt sich selbst als eine wirklich winzige Laus. Aber eine Sache, da müssen Sie uns noch von erzählen, Andreas Maier. Ihr Held trifft eine historische Person, und das haut einen doch vom Schlitten. Er sucht sich nämlich einen Studentenjob, wird Pflegekraft und kommt so in die Wohnung der greisen Gretel Adorno, der Witwe vom legendären Theodor W. Und da fragt man sich natürlich, war das tatsächlich so? Haben Sie die echt gesehen, oder haben Sie das erfunden?
Maier: Das ist eine Frage, die mir jetzt so oft gestellt wird, und ich habe versucht, mir eine Antwort in der letzten Woche zurechtzulegen. Sie merken aus dem Text, dass ich diese Frau natürlich gekannt habe, und dass ich sie auch einigermaßen gut gekannt habe. Andererseits denke ich immer wieder, es steht ja "Roman" auf dem Buch drauf, und ich stelle mir eigentlich inzwischen so etwas wie eine Kirchenfassade vor mit einzelnen Bildwerken in den Tabernakeln stehen einige Figuren, und wenn man einen Roman so lesen würde, dass man das Bildprogramm sozusagen liest, interpretiert – bei einer Kirchenfassade würde man ja auch nicht auf die Frage kommen, hat denn Markus den Evangelisten, der da steht, jetzt wirklich gekannt? Aber das ist natürlich – mir ist schon klar, dass ich da ein Fass aufgemacht habe.
Die Suche nach Pointen
Scholl: Das ist ein heißer Vergleich, aber ja, hat eine Logik auf jeden Fall.
Maier: Also vieles von dem, was da steht, stimmt. Vieles ist wie immer bei mir im Detail völlig verzeichnet, ich suche ja auch Pointen. Das Café Laumer*) und Gretel Adorno wird im Verlauf des Textes irgendwann nach zehn Jahren, sie ist in ihrer Wohnung, in einem fürchterlichen Zustand durch eine ehemalige Vergiftung ziemlich eingeschlossen und eigentlich auch vergessen worden. Aber der Pflegedienst bemüht sich irgendwann darum, sie endlich mal wieder auf die Straße zu bringen. Und dann wird sie spektakulär am Suhrkamp-Verlag ins Café Laumer geschoben.
Scholl: Das ist eine irre Szene.
Maier: Das in der Tat. Und hier kann ich mal meine Verzeichnungen ganz kurz sozusagen am Beispiel erläutern. In Wahrheit ist sie damals in ein anderes Café, das "Opus 111" geschafft worden. Aber "Opus 111" ist schon wieder zu viel Adorno, schon wieder zu viel Thomas Mann, deshalb hat das für mich nicht funktioniert.
Scholl: Es ist auf jeden Fall eine klasse Passage, die wirklich auch ein bisschen sozusagen die Sache auch heiter macht, also heiter in einem dramatischen Sinn. Der alten Dame geht es wirklich schlecht, aber es ist schon irgendwie sehr skurril. Herr Maier, unsere Zeit ist schon leider zu Ende. Wir sind trotzdem weiterhin im Hessischen, in der Wetterau und in Frankfurt im Roman. Wohin soll es denn als Nächstes gehen, und welches ist denn der nächste Raum, also Band sieben?
Maier: Das nächste Buch heißt "Die Familie", das weiß ich. Was passieren wird, kann ich noch nicht sagen. Im Augenblick sieht es so aus, dass es wieder in der Kindheit anfängt. Aber die Regel bei mir ist, am Ende jedes Buches ist die erzählte Person ein Stück älter geworden als in den Vorgängerbüchern. Das heißt, diesmal wird es sicherlich bis ins, sagen wir, 25., 30. Lebensjahr gehen.
Scholl: Wir haben uns schon überlegt, wo könnte es denn eigentlich sozusagen titelmäßig, wie können denn die Räume noch weiter werden? Band 11, "Im Weltall" oder so.
Maier: Nein, nein. Die Zukunft heißt "Die Familie", dann kommt "Die Städte", "Die Heimat", "Der Teufel" und "Der liebe Gott".
Scholl: Dann haben wir auf jeden Fall schon mal die Ortsnamen der nächsten "Ortsumgehung". Vielen Dank, Andreas Maier, für dieses Gespräch, und gute Besserung für Ihre Erkältung.
Maier: Ich danke Ihnen!
Scholl: Alles Gute weiterhin, und natürlich hohe Produktivität für die gesamte "Ortsumgehung". Band 6, "Die Universität", erscheint jetzt im Suhrkamp-Verlag, ab Montag ist es im Buchhandel. 147 Seiten zum Preis von 20 Euro.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
*) In einer früheren Fassung hatten wir dem Café einen falschen Namen gegeben. Dank eines Hörer-Hinweises haben wir das korrigiert.