Andreas Neuenkirchen: "Codename Sempo"
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Ein Diplomat als Lebensretter
07:24 Minuten
Andreas Neuenkirchen
Codename: Sempo. Wie ein japanischer Diplomat Tausenden Juden das Leben retteteEuropa Verlag, München 2022232 Seiten
24,00 Euro
Andreas Neuenkirchen erinnert in seinem Buch „Codename: Sempo“ ebenso präzis wie empathisch an den japanischen Diplomaten Chiune Sugihara, der 1940 als Vizekonsul in Litauen das Leben Tausender Juden rettete.
Wie kommt ein japanischer Diplomat in Litauen dazu, im Jahr 1940 Tausende jüdischer Flüchtlinge zu retten? Der in Tokio lebende Journalist und Schriftsteller Andreas Neuenkirchen gibt in seinem Buch „Codename Sempo“ darauf eine Antwort.
Ohne sich in Begrifflichkeiten wie „Globalgeschichte“ oder „multidirektionalem Erinnern“ zu verlieren, zeigt er anhand konkreter Geschehnisse auf, in welcher Weise geschichtliche Ereignisse miteinander verknüpft sind.
Polyglott und neugierig
So war bereits 1904 während des russisch-japanischen Krieges der Revolutionär und ehemalige Sibirien-Verbannte Józef Piłsudski in Tokio gewesen. Der spätere Staatsgründer Polens wollte dafür werben, dass Japan den polnischen Aufstand gegen die Moskauer Fremdherrschaft unterstützte.
Als dann 1939 der im Jahr 1900 geborene Japaner Chiune Sugihara als Diplomat in die damalige litauische Hauptstadt Kaunas kam (in deren Nähe auch Piłsudski geboren war), war er jedenfalls bereits bestens über die innereuropäischen Konflikte und Verwerfungen informiert.
Darüber hinaus war er zuvor bei seinem ersten Auslandseinsatz in der chinesischen Stadt Harbin auf russisch-jüdische Siedler getroffen, die sich einst vor der Zwangsrekrutierung der zaristischen Armee dorthin geflüchtet hatten.
Andreas Neuenkirchen beschreibt „diesen Herrn Sugihara“ als einen polyglotten und neugierigen Zeitgenossen, der mit Nicht-Japanern keineswegs fremdelt, für seine erste russische Frau sogar zum Christentum übertritt (und in der zweiten, dann lebenslang haltenden Ehe mit einer Japanerin dann ebenso pragmatisch rück-konvertiert.)
Juden suchen Schutz beim japanischen Konsulat
Freilich dient der Abenteurer nur zum Schein als Diplomat; in Wirklichkeit ist er ein japanischer Auslandsagent, der sich dann im seit 1940 sowjetisch okkupierten Litauen sowohl über die Absichten der Sowjets wie über jene Nazideutschlands informieren soll, das zu diesem Zeitpunkt im Hitler-Stalin-Pakt noch ein Verbündeter des Kreml ist.
Gleichzeitig aber fliehen polnische Juden aus ihrer von den Deutschen besetzten Heimat nach Litauen und suchen zunehmend Schutz beim japanischen Konsulat. Es hatte sich nämlich herumgesprochen, dass dort ein gewisser Herr Sugihara, aus finanziellen Gründen unterstützt von einem hochrangigen Sowjetfunktionär, potenziell lebensrettende Transitvisa nach Japan ausstellt.
Und das zu einer Zeit, als das Regime seiner Tokioter Auftraggeber im besetzten China massenmörderisch wütet, die „Achsen“-Bindung an Hitlerdeutschland verstärkt und bereits Pläne entwickelt für einen Angriff auf die Vereinigten Staaten.
Humanitär gegen den Willen der Vorgesetzten
Und so wird aus dem Spion in den folgenden Monaten bis zu seiner Abberufung ein unbürokratischer Lebensretter, der rechtlich zweifelhafte Visa ausstellt, welche jedoch ungeübte Grenzer zu beeindrucken vermögen – und all das gegen den Willen seiner offiziellen Vorgesetzten im japanischen Außenministerium, während sein holländischer Kollege in Kaunas gleichzeitig Visa für die damalige Karibik-Kolonie Curaçao ausstellt.
Andreas Neuenkirchen, der jedem der ungemein spannend zu lesenden Kapitel drei lakonisch-suggestive, kursiv gesetzte Überblickssätze voranstellt, beschreibt aufgrund guter Quellenlage hier ebenso empathisch wie präzise Herrn Sugiharas zunehmende mentale und physische Erschöpfung.
Noch so viele Menschen vor dem Konsulat, die man retten muss – irgendwann sogar mit selbst geschriebenen Visa-Formularen, auch wenn die Hand den Federhalter kaum noch zu halten vermag. Und dennoch: Nein, dieser Mann ist nicht „der japanische Schindler“, braucht auch posthum kein Adjektiv und keinen Vergleich.
Zeugen hatten damals beobachtet, wie Chiune Sugihara, 1941 abberufen, noch aus dem Zugfenster Transitvisa reicht, die jetzt nur noch auf Hotelbriefpapier geschrieben waren.
Späte Würdigung eines stillen Menschenfreundes
Einige Historiker gehen davon aus, dass ungefähr sechstausend jüdische Flüchtlinge auf diese Weise überlebten, andere sprechen gar von zehntausend. Nach Weltkriegsende wurde Herr Sugihara aus dem diplomatischen Dienst entlassen, wobei jedoch die eigenmächtige „Sache in Kaunas“ zumindest offiziell keine Erwähnung fand.
Der Lebensretter musste sich mit Gelegenheitsjobs und anderen Anstellungen neu erfinden, sprach nur innerhalb der Familie über das einstige Geschehen und blieb auch für die nach ihm suchenden Überlebenden lange unauffindbar, da er sich bei ihnen damals in Kaunas der besseren Deckung Willen als „Herr Sempo“ vorgestellt hatte.
Schließlich konnte man den inzwischen älteren Herrn aber doch noch ausfindig machen, es gab Einladungen nach Israel – einer der geretteten „Sugihara-Juden“ war dort inzwischen ein Minister geworden. 1985, ein Jahr vor seinem Tod, wurde Chiune Sugihara schließlich von der Gedenkstätte Yad Vashem als „Gerechter unter den Völkern“ geehrt, als bislang einziger Japaner.
Dank dem skrupulös recherchierten und lebendig geschriebenen Buch von Andreas Neuenkirchen ist diese Geschichte nun endlich auch hierzulande zu entdecken.