Andreas Rinke: "Das Merkel-Lexikon. Die Kanzlerin von A-Z"
Zu Klampen Verlag, Springe 2016
447 Seiten, 24,80 Euro
Was Angela Merkel in der Flüchtlingsfrage treibt
Wie tickt Angela Merkel, was geht in ihr vor? Was denkt sie wirklich über Horst Seehofer? Und warum vertritt sie eine so klare Linie mit den Flüchtlingen? Innenansichten der Kanzlerin gibt der Journalist Andreas Rinke in seinem "Merkel-Lexikon".
Einblicke in das Universum der Bundeskanzlerin gibt Andreas Rinke in seinem Buch "Das Merkel-Lexikon". Der Chefkorrespondent der Nachrichtenagentur Reuters ist ein langjähriger Beobachter des politischen Geschehens in Berlin. Der Abschnitt "Flüchtlinge" sei das längste Kapitel des Buches, so beschreibt es Rinke im Deutschlandradio Kultur – und auch der Grund für dessen Entstehung:
"Ich hatte bereits zu Beginn der Flüchtlingskrise im vergangenen Jahr das Gefühl, dass man doch etwas mehr Fakten und Daten über die Kanzlerin zusammentragen muss, um zu erklären, warum sie sich so verhält, wie sie sich verhalten hat und es heute noch tut. Viele der Annahmen, die damals in der Flüchtlingskrise aufgeschrieben wurden, haben sich als falsch herausgestellt."
Ganz bestimmte Motive in der Flüchtlingsdebatte
Die damaligen Entscheidungen von Merkel hätten ihn nicht überrascht, denn sie habe viele dieser Positionen schon in früheren Jahren vertreten, sagt Rinke. Die Kanzlerin habe ganz bestimmte Motive gehabt:
"Das war die Sorge um das europäische Projekt, das war die christliche Prägung, die 35 Jahre DDR-Erfahrung und sicher auch die Verantwortung Deutschlands nach der NS-Zeit. Das waren die vier Grundmotive für ihre Haltung."
Karriere Merkels als Rollenmodell für Frauen
Eine Konstante in der Arbeit von Merkel sei der Einsatz für Frauen, so habe er bei den Recherchen zu seinem Buch festgestellt, erzählt Rinke:
"Sie organisiert heute noch im Kanzleramt internationale Frauenkonferenzen, wo sie Frauen in Führungspositionen einlädt, um Erfahrungen auszutauschen. Sie sieht sich auch selber eindeutig als Rollenmodell für Mädchen und junge Frauen, dass man es eben auch in die Spitze der Politik oder eines Unternehmens schaffen kann."
"Sie hat den Anspruch, möglichst viel zu wissen"
Zu den Stichworten des Lexikons gehören auch "Katharina die Große" – deren Bild auf dem Schreibtisch der Kanzlerin steht – und der Begriff "Kanzlermappe". Will Merkel immer genau wissen, was läuft? Rinkes Meinung lautet:
"Das ist mein Eindruck, dass die Kanzlerin den Anspruch hat, möglichst viel zu wissen. Sie ist eine konstante Leserin, saugt Informationen auf. Dahinter steht auch – so sie sie selbst es auch beschrieben – der Anspruch, möglichst mehr zu wissen als das Gegenüber, weil einen das in einen taktischen Vorteil versetzt und eigene Entscheidungen weniger angreifbar macht."
Das Interview im Wortlaut:
Liane von Billerbeck: Sie ist Kult, wird als mächtige Weltpolitikerin geschätzt. Vom "Time Magazine" bis zum Kinderhilfswerk UNICEF, die sie ja heute als einen der größten Menschenfreunde bezeichnete – Angela Merkel. Hierzulande indes wird sie gerade runtergeschrieben. Wegen ihrer Flüchtlingspolitik steht sie mächtig unter Druck und ist nicht nur deshalb auch vielen hierzulande seltsam fremd.
Der Berliner Journalist Andreas Rinke kann dem vielleicht abhelfen. Er hat ein Merkel-Lexikon geschrieben, beobachtet sie seit langem, ist inzwischen politischer Chefkorrespondent bei Reuters und kennt Merkel deshalb von Dutzenden Terminen und aus Hintergrundgesprächen. Und weil es im Bundestag heute um den Kanzleramtsetat geht und die Opposition zum Angriff bläst, wollen wir mit Andreas Rinke über die Kanzlerin reden. Schönen guten Morgen!
Andreas Rinke: Guten Morgen!
von Billerbeck: Es geht ja da heute ganz sicher um die Flüchtlingspolitik. Auch in Ihrem Lexikon steht der Buchstabe "F" wie "Flüchtlinge", ein langer Absatz. Vielleicht der längste im ganzen Buch?
Rinke: Das ist tatsächlich der längste im ganzen Buch und eigentlich auch der Grund, warum dieses Buch entstanden ist. Weil ich als Beobachter bereits zu Beginn der Flüchtlingskrise im vergangenen Jahr das Gefühl hatte, dass man doch etwas mehr Fakten und Daten über die Kanzlerin zusammentragen muss, um zu erklären, warum sie sich so verhält, wie sie sich verhalten hat und heute es noch tut. Weil viele der Annahmen, die damals geschrieben wurden, in der Flüchtlingskrise eigentlich sich als falsch herausgestellt hatten.
Sorge um das europäische Projekt
von Billerbeck: Zum Beispiel, dass ihr Verhalten überraschend gewesen sei?
Rinke: Genau. Für mich als langjährigen Beobachter war es nicht ganz so überraschend, weil sie viele dieser Positionen, die sie dann vertreten hat, eigentlich schon in sehr viel früheren Jahren geäußert hat. Und die Motive für diese dann als sehr fest beschriebene Haltung, die viele überrascht hat, doch eigentlich klar erkennbar waren. Das war diese Sorge um das europäische Projekt.
Man kann dann selbst beurteilen, ob sie das erfolgreich gemacht hat oder nicht, darum ging es mir in der Beschreibung gar nicht so sehr, sondern zu erklären, was die Motive waren. Das europäische Projekt, die christliche Prägung, die 35 Jahre DDR-Erfahrung und sicher auch die Verantwortung Deutschlands nach der NS-Zeit, das waren nach vielen Gesprächen, die ich auch mit Vertrauten und mit Leuten hatte, die mit Merkel viel zu tun haben, waren die vier Grundmotive für ihre Haltung.
von Billerbeck: Die Stichworte in Ihrem Buch gehen natürlich, wie es sich gehört bei einem Lexikon, von A bis Z, also von "Abschottung" bis "Zwei-Wort-Politik". Gab es darunter welche, die sich aufgedrängt haben, oder haben Sie so richtig danach suchen müssen, dass da auch jeder Buchstabe vorkommt?
Die Stichworte "Putin", "China" oder "merkeln"
Rinke: Ich glaube, das war sehr unterschiedlich. Es gab bestimmte Worte, die drängten sich einfach auf, wie zum Beispiel "Putin", "China", Worte wie "merkeln", die man einfach erklären musste. Einige haben mir viel Spaß gemacht, die habe ich richtig ausgearbeitet, wie zum Beispiel ihr Verhältnis zu Frauen oder ihr Blick auf Frauen.
von Billerbeck: Sagen Sie doch mal etwas dazu.
Rinke: Man stellt fest, wenn man tief in die Geschichte geht und in das, was sie gesagt hat über die Jahre – sie ist immerhin ja schon elf Jahre im Amt und war vorher schon zweimal Ministerin in verschiedenen Positionen gewesen, unter anderem als Frauenministerin –, man stellt fest, dass das wirklich eine Konstante ist, der Einsatz für Frauen. Sie organisiert heute noch im Kanzleramt etwa zweimal im Jahr Frauenkonferenzen, internationale, wo sie Frauen in Führungspositionen einlädt, um Erfahrungen auszutauschen, und sieht sich auch selbst eindeutig als Rollenmodell für Mädchen und junge Frauen, dass man das eben auch in die Spitze der Politik oder auch eines Unternehmens schaffen kann.
von Billerbeck: Zwei Stichworte haben mich sehr gefreut, nämlich einmal "Katharina die Große" und "Kanzlermappe". Beides könnte man irgendwie zusammenbringen, denn ich weiß aus einem Buch, "Paris zündet die Lichter an", dass Katharina die Große sich viele Spion-Berichte aus Paris hat liefern lassen. Hat Angela Merkel mit ihrer Kanzlermappe auch so ein bisschen, macht sie so den Versuch, dass sie immer genau weiß, was läuft?
Rinke: Das ist zumindest mein Eindruck, dass die Kanzlerin den Anspruch hat, möglichst viel zu wissen – ich will nicht sagen alles, aber möglichst viel. Sie ist eine konstante Leserin, den ganzen Tag über, die ganze Woche über, das ganze Jahr über, saugt Informationen auf.
Und dahinter steht auch, so hat sie sich selbst heute ja auch geäußert und sich beschrieben, der Anspruch, möglichst mehr zu wissen als das Gegenüber und der Gesprächspartner, weil einen das in einen taktischen Vorteil versetzt und weil es natürlich auch eigene Entscheidungen weniger angreifbar macht, weil man ein Problem von verschiedenen Seiten her betrachtet hat und deswegen möglicherweise besser damit umgehen kann.
Rollenspiel mit Horst Seehofer
von Billerbeck: Und das Bild von Katharina der Großen steht bei Merkel auf dem Schreibtisch, weiß ich nach Ihrem Lexikon. Eine Frage zum Schluss: Was erfährt denn jemand wie ein Horst Seehofer aus Ihrem Lexikon, was er noch nicht weiß und möglicherweise vor dem Koalitionsausschuss am Sonntag dann verwenden kann?
Rinke: Ich glaube, dass Horst Seehofer über Angela weiß, sehr viel mehr als die meisten anderen Politiker, weil die beiden sich seit langer, langer Zeit kennen und schon viele Streits miteinander ausgefochten haben, die auch teilweise sehr persönlich waren. Er ist immerhin, als sie Fraktionsvorsitzende war, 2004, bereits einmal zurückgetreten aus Protest gegen sie. Damals war er für Gesundheit zuständig, und die CDU-Vorsitzende wollte damals die Gesundheitsprämie als Oppositionspolitikerin, die Seehofer vehement ablehnte.
von Billerbeck: Stimmt, das hat man auch schon wieder vergessen.
Rinke: Genau. Und das zieht sich, diese Art der Konflikte zieht sich wirklich durch die ganze Zeit durch. Ich glaube, dass beide sehr genau wissen, dass sie einerseits ein Rollenspiel machen: Der eine ist bayerischer Ministerpräsident, die andere Kanzlerin, und vertreten deswegen häufiger andere Positionen. Sie haben eine persönlichen Streit, ein Konkurrenzverhältnis, das sie miteinander austragen.
Und sie haben verschiedene Überzeugungen, die in der Flüchtlingspolitik zum Tragen kamen. Vielleicht ist das, was er sich noch mal ins Gedächtnis rufen könnte vor dem Sonntag, ein Spruch, den ich mit am schönsten fand von Merkel. Ich zitiere sie mal: "Seehofer ist einer, der mir beibringt, dass, wenn es heute schön ist, es morgen nicht genauso sein muss." Ich glaube, das beschreibt ihr Verhältnis zu Seehofer am besten.
von Billerbeck: Andreas Rinke war das über die Bundeskanzlerin. Sein "Merkel-Lexikon. Die Kanzlerin von A bis Z" ist soeben im Zu-Klampen-Verlag erschienen. Ich danke Ihnen für das Gespräch!
Rinke: Bitte schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.