Andreas Weber: "Warum Kompromisse schließen?"
Dudenverlag, Berlin 2020
128 Seiten, 14 Euro
Der Weg zu mehr Gemeinschaft und Gegenseitigkeit
12:59 Minuten
Oft hören wir davon, wie wichtig sie sind und dass es ohne sie nicht geht: Kompromisse. Doch Vorsicht vor dem Scheinkompromiss, und auch der faule Kompromiss ist schlecht. Der gute Kompromiss hingegen hilft allen, sagt der Philosoph Andreas Weber.
Frank Meyer: Wenn jemand sagt, mein Leben ist ein einziger Kompromiss, dann sagen viele wahrscheinlich dazu: Du arme Socke kannst du dich nicht wenigstens mal in einer Sache richtig durchsetzen. Der Philosoph und Biologe Andreas Weber würde aber wahrscheinlich sagen: Du machst das ganz richtig, denn Kompromisse sind das eigentlich Menschliche. So habe ich jedenfalls sein neues Buch verstanden.
"Warum Kompromisse schließen" heißt das, und das ist vielleicht gerade besonders aktuell wegen der vielen Kompromisse, die wir wegen Corona machen müssen. Sie erzählen am Anfang des Buches, was Sie in einer italienischen Bibliothek über den Kompromiss gelernt haben. Was denn?
Weber: Ich hab ein Lebensstandbein in einem kleinen Dorf im Apennin, dort war ich eine Weile Hilfsbibliothekar. Ich wurde dann also eingeführt von der Hauptbibliothekarin und sie schärfte mir zum Schluss etwas ein, was mich ein bisschen stutzig machte. Sie sagte zu mir: "Wenn jemand nur ein paar Tage zu spät seine Bücher abgibt, dann muss der nicht unbedingt Strafe zahlen." Das hieß aber so viel wie: "Guck dir genau an, wie seine Situation ist, und beharre nicht auf dem Prinzip", und das fand ich ein unglaubliches Geschenk.
Meyer: Also mit einem Kompromiss auf die Situation reagieren.
Weber: Ganz genau, eben nicht ein Prinzip reiten, sondern angepasst und adäquat. Das hab ich dann auch gleich verinnerlicht. Ich war sehr froh, dass ich das machen konnte, das war wirklich eine Einweihung.
Land der kompromisslosen Schreckensgestalten
Meyer: Sie erzählen die Geschichte auch, um eigentlich uns Deutschen eins mitzugeben. Sie sagen, das ist genau das, was uns fehlt, diese Fähigkeit zum Kompromiss.
Weber: Ja, wir Deutschen sind traditionell, glaube ich, ein sehr kompromissloses Volk. Es gibt ja auch einige kompromisslose Schreckensgestalten in unserer Geschichte. Und auch die, bei denen man nicht weiß, sind es Lichtgestalten oder eher Schwierige, sind auch immer kompromisslos. Kant und Luther stehen ja auch für das "Hier stehe ich und kann nicht anders".
Diese Geschichte hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg unter dem Erziehungsdruck der Alliierten in diese Konsenskultur gewandelt, die lange Zeit die Bundesrepublik geprägt hat, aber jetzt unter starkem Beschuss steht. Deswegen müssen wir hier wirklich genau hingucken, was ist eigentlich das Lebensförderliche an einem Kompromiss, denn das ist er: lebensförderlich.
Hannah Arendt: Genie des Kompromisses
Meyer: In dem Buch beleuchten Sie auch den Kompromiss in der Politik. Da haben Sie zwei Gewährsleute, auf die Sie sich beziehen. Einer, von dem Sie sich abgrenzen, ist Carl Schmitt, der Staatsrechtsdenker, für den eigentlich der Grundcharakter des Politischen in der Aufspaltung zwischen Freund und Feind liegt, also eben im Kompromisslosen.
Aber die Denkerin, an die Sie sich sehr anlehnen, ist Hannah Arendt – das deutsche Genie des Kompromisses, schreiben Sie. Was macht sie denn zu so einem Genie?
Weber: Das hab ich jetzt natürlich stark akzentuiert bei ihr, sie ist ja eine sehr vielschichtige Denkerin. Für sie ist Beziehung gerade nicht das Unmittelbar-sein-Ding-machen, sondern ein Zusammentreffen zweier genuin unterschiedlicher Wesen. Das ist auch das, was Beziehungen immer politisch macht, weil man immer irgendwie einen Weg finden muss, miteinander auszukommen.
Aber wenn man diesen Weg nicht finden würde, dann wäre es eben keine Beziehung, das ist das Interessante. Hannah Arendt nennt das, was erforderlich ist, das Zusammenhandeln. Ganz anders die historische Gestalt Carl Schmitt, der sagt, Politik besteht eben gerade im Zerschlagen von Beziehungen, also im Herausschärfen der Polaritäten und dann möglichst im Eliminieren der anderen Seite. Deswegen ist er eben auch ein Stichwortgeber für die Nazis gewesen.
Der faule Kompromiss
Meyer: Das ist ja auch interessant, wenn wir uns das mal anschauen im Blick auf die deutsche Politik der letzten 15 Jahre. Die CDU ist immer sozialdemokratischer geworden, die Sozialdemokraten haben alles mitgemacht in der Großen Koalition. Die ehemals großen Volksparteien sind durch diese endlosen Kompromisse ununterscheidbar geworden. Gerade das hat die politischen Ränder gestärkt, also Parteien wie die AfD. Das wäre eine fatale Wirkung von Kompromissen, oder?
Weber: Absolut, ich glaube aber, dass wir auch dort, wenn wir den Schuldigen im Kompromiss finden, nicht richtig hingucken. Angela Merkel ist sicherlich eine große Künstlerin des Kompromisses - durchaus auch im Sinne von Hannah Arendt.
Auch beim Brexit zum Beispiel ist ja Merkel immer diejenige, die sagt, im Zweifelsfall müssen wir dann eben noch ein Stück denen entgegenkommen, obwohl es eigentlich falsch ist, damit wir dieses Zusammenhandeln finden.
Es ist so, dass wir sehen müssen, dass unsere derzeitige Politik einen grundsätzlich faulen Kompromiss macht. Ein fauler Kompromiss ist, wie man schon hört, eigentlich keiner nach meiner Definition, sondern ein schädlicher Scheinkompromiss.
Meyer: Können Sie uns an einer konkreten Entscheidung zeigen, was sie mit einem faulen Kompromiss meinen?
Weber: Die neue EU-Landwirtschaftsfinanzierung, die als ökologischer Durchbruch gepriesen wird. Aber wie alle Kenner, Beteiligten und sogar Nichtkenner unschwer erkennen können, ist es weiter ein Verbeugen vor den Interessen der Großgrundbesitzer.
Es ist eben nicht ein Zusammenhandeln mit den anderen Geschöpfen der Bio- und Atmosphäre, mit denen wir irgendwie auskommen müssen, mit denen wir ja einen wirklichen Überlebenskompromiss finden müssen. Das wird als Durchbruch verkauft, ist aber schliht einfach keiner.
Solche Sprüche werden natürlich von den Wählerinnen und Wählern erkannt, und dann haben die insgesamt das Gefühl, die Politiker erzählen uns sowieso nicht, was los ist. Und das schürt Aufruhrpotenzial.
Alle müssen bedacht werden, nicht nur die starken
Meyer: Was wäre jetzt in Ihrer Lesart ein wirklicher Kompromiss?
Weber: Das müsste man tatsächlich auf dieser Hannah-Arendt-Beziehungsebene auffädeln. Man müsste sich überlegen, dass wir als Menschen tatsächlich schon biologisch immer in Beziehung mit anderen Lebewesen existieren. Wir wissen, wir müssen uns von ihnen ernähren, und die Atmosphäre ist so etwas wie der geteilte Atemraum, wo sich das alles austauscht.
Jetzt wäre der Gedanke tatsächlich – und das ist ein sehr ökologischer Gedanke, denn ein Ökosystem ist ja ein Beziehungssystem – wie können wir denn jetzt mit anderen Lebewesen gute Beziehungen haben? In dem Sinne, dass unser Überleben und deren Überleben möglich wäre. Und dann ist natürlich klar, dass eine zerstörerische Landwirtschaftspolitik einfach nicht funktionieren kann.
Das ist eben ein fauler Kompromiss für diejenigen, die keine Stimme haben in diesem Abkommen, also die nichtmenschlichen Lebewesen. Die werden dann über den Tisch gezogen. Gleichzeitig ist aber klar, dass damit natürlich auch die menschliche Zukunft auf dem Spiel steht. Das wissen eigentlich alle und denken: "Was ist hier eigentlich los?" Und dann sind sie anfällig für einfache Lösungssprüche.
Stimmen aus der afroamerikanischen Community
Meyer: Wenn Sie sich auf andere Denkerinnen und Denker beziehen, dann recht häufig auf Stimmen, die aus Afrika oder der afroamerikanischen Community kommen. Wie kommt das?
Weber: Das kommt daher, dass ich Gewährsleute suche, um diese Übermacht eines Weltverständnisses zu hinterfragen, dass die Menschen als einzig vernünftige Akteure in einer Welt der stummen Objekte sieht.
Ich brauche Inspiration aus den Reihen derjenigen, die sich mit so etwas wie Kolonialisierung beschäftigen. Denen, die ein Recht auf gleichwertige Beziehungen haben, diese aber nicht kriegen. Und das ist natürlich klar, dass wir dann bei Minderheiten Aktivisten suchen müssen.
Nun war, während ich geschrieben habe, auch George Floyd getötet worden und diese Black-Lives-Matter-Proteste gingen los. Da dachte ich mir, das ist doch eigentlich auch letztlich der Schrei danach, dass die herrschende weiße Mehrheit endlich einen Kompromiss macht und die anderen nicht bloß abspeist. Wir sind da sozusagen mitten in dem Geschehen. Das ist so aktuell gewesen, das konnte ich einfach nicht nicht mit reinnehmen.
Corona: ein Resultat von schlecht geführten Beziehungen
Meyer: Sie beziehen sich in Ihrem Buch auch auf die Pandemie und sagen da, dass der Ausbruch des Coronavirus Ihre Überlegungen auf verstörende Weise bestätigt. Wie meinen Sie das?
Weber: Corona ist ein ökologisches Desaster, denn das Virus ist von den Tieren auf die Menschen übergesprungen, weil Menschen den Tieren zu sehr auf den Leib gerückt sind. Durch Abholzung, durch ökologische Übergriffigkeit.
Das wusste man auch. Das war erwartbar. Insofern ist eben auch Corona ein Resultat von schlecht geführten Beziehungen. In einer Welt, in der versucht wird, Gegenseitigkeit herzustellen, würde das nicht passieren. Es ist der Rückschlag von unfairen Beziehungen, der immer auch denjenigen, der glaubt, sich das rausnehmen zu können, trifft. Und in der Situation sind wir jetzt.
Die Pandemie als Chance für den guten Kompromiss
Meyer: Machen wir gerade so etwas durch wie eine Schule des Kompromisses unter dem Zwang der Pandemie?
Weber: Ja, das wäre zu wünschen. Es ist immer die Frage, wie viel wir von dem verstehen, was uns gerade passiert. Das Faszinierende bei Corona ist ja, dass im Grunde genommen ein Aspekt des gelungenen Kompromisses klar wird. Nämlich, dass ein solcher Kompromiss immer Leben zu schützen hat.
Ein Kompromiss, der sich gegen Lebendigkeit wendet, ist kein Kompromiss, und unter diesem Aspekt, glaube ich, können wir auch viele Haltungen und Handlungen in der Corona-Krise und in der Hygienepolitik sehen: Es geht um das Schützen von Lebendigkeit und es geht um das Schützen von Gegenseitigkeit und Gemeinschaftlichkeit. Und das ist, glaube ich, eine wichtige Zielrichtung.
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