Andrej Bitow: „Leben bei windigem Wetter“
© Suhrkamp
Am eigenen Schopf aus dem sozialistischen Sumpf
05:55 Minuten
Andrej Bitow
Übersetzt von Rosemarie Tietze
Leben bei windigem WetterSuhrkamp Verlag, Berlin 2021154 Seiten
20,00 Euro
Andrej Bitow zieht sich aus Leningrad auf die Datscha zurück, stellt die Schreibmaschine auf den Tisch, setzt sich hin – und weiß nicht weiter. Bis dann aus der Schreibblockade heraus eine wilde Abfuhr des sozialistischen Realismus entsteht.
Manche Menschen können sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen. Münchhausen zum Beispiel oder Andrej Bitow. Der sowjetische und russische Schriftsteller ist allerdings deutlich raffinierter als der Lügenbaron.
1963 erschien das erste Buch des 26-Jährigen, die Erzählungen „Der große Luftballon“. Der Bergbauingenieur beschloss, sich nun ganz dem Schreiben zu widmen. Im Sommer zog er mit Frau und Säugling auf die Familiendatscha in Toksowo nordöstlich von Leningrad, richtete den spinnwebverhangenen Dachboden als Arbeitszimmer her und wusste nicht weiter.
Alles war bereit, so schildert die Übersetzerin Rosemarie Tietze in ihrem knappen, aber gehaltvollen Nachwort die Situation, doch die Worte verweigerten sich.
Annäherung an das Leben
Bitow schreibt dann auf, was sich sonst so in Toksowo tut: Der Regen dringt durchs Datschendach und füllt die aufgestellten Eimer auf klangvolle Weise, die Nacht fällt und lässt die Scheibe zum Spiegel für den Autor werden, die Mäuse rascheln hinter der Tapete, unten schreit das Kind, Milch muss geholt werden, Fahrten in die Stadt werden unternommen, Besuch stellt sich ein, draußen weht es kräftig.
„Leben bei windigem Wetter“ ist ein launiger, detailverliebter Bericht über eine Verhinderung und zugleich eine Annäherung an das Leben, den Alltag, das eigene Erleben.
Nach immerhin 60 Seiten scheint das Sujet erschöpft. Es beginnen die „Aufzeichnungen eines Einzelkämpfers“ mit dem programmatischen Titel „Um die Ecke“. Bitow nähert sich hakenschlagend dem, was sich ihm auf geradem Weg entzieht.
Die Aufzeichnungen tragen genaue Datumsangaben. Erzählte der erste Teil des Buches recht konventionell von einer Schreibblockade, zeigen die Einträge nun, was dennoch entstand: Bitow schlägt sich durchs Verhau der Vorschriften für die Literatur im sozialistischen Realismus und sucht nach einem Ausgang.
Kein Philosoph, sondern ein Vagabund
Anfangs träumt Bitow, er werde in einer Versammlung gezwungen, das Wort zu ergreifen. Von seiner Rede erinnert er nur noch zwei durch die Traumzensur verzerrte Sätze, in denen er alles Gesellschaftliche, jeden Auftrag für die Kunst zurückweist.
Dann geht er im angespannt stillen Saal zum Ausgang, ins „Grab“, ins „Nichts“. Der erwachte Bitow weist danach alles zurück: die Ideen, die vermeintlich die Welt verändern, die sozialistische Parteilichkeit des Schriftstellers, den Fortschritt, den pawlowschen Reflex anstelle des Bewusstseins, die Prostitution der Autoren im Dienst des Staates und noch einiges mehr.
Bitow ist kein Philosoph, sondern ein Vagabund. Abschweifend, ausschweifend und gern boshaft erledigt er das Dogma, Kunst und Künstler hätten staatstragende Aufgaben. Stets bleibt er konkret und bei sich, taucht mal als Passant, mal als Verrückter auf.
Nur der erste Teil konnte erscheinen
Als die herrschenden Ideen und Begriffe abgeräumt sind, befindet sich der Künstler allein auf weiter Bewusstseinsflur. Er sperrt Augen und Ohren auf, fürchtet den Tod und gewinnt mit knapper Not aus dem wackeren Vertrauen auf sich das Neue.
Natürlich konnte nur der erste Teil von „Leben bei windigem Wetter“ in der Sowjetunion erscheinen. Komplett wurde Bitows Recherche nach der eigenen Poetik – im Geiste von größtenteils nicht ins Russische übersetzten Autoren wie Marcel Proust, Henry James und James Joyce – nicht vor 1999 publiziert. Und drei Jahre nach seinem Tod 2018 erscheint sie erstmals auf Deutsch.