Die Folgen von Ausgrenzung und Verdrängung
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Illegales und entgeltfreies Wohnen – in Leipzig war dies lange Zeit möglich. Jetzt, da Eigentum zu Geld gemacht werden könne, ändere sich das, erklärt der Soziologe Andrej Holm. Dieser Konflikt spiele für die anhaltenden Proteste in der Stadt eine wichtige Rolle.
Stephan Karkowsky: Im Leipziger Stadtteil Connewitz hat es drei Nächte hintereinander schwere Ausschreitungen gegeben. Nach einer Demonstration gegen Gentrifizierung und Verdrängung wurden Scheiben eingeworfen an Neubauhäusern, es wurden Bengalos gezündet und Polizisten angegriffen. Polizeipräsident Schulze nannte die Angreifer augenscheinliche Linksextremisten.
Der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer sagte: "Es gibt auch in Leipzig bezahlbaren Wohnraum. Mag sein, dass er vielleicht nicht unbedingt in Connewitz und in der Innenstadt ist, aber ich war ja oft in Leipzig, habe auch mit unterstützt sozialen Wohnungsbau. Diesen Leuten geht es nicht um dieses Thema. Es geht ihnen darum, gegen diese Rechtsordnung vorzugehen."
Warum gerade im Protest gegen den Städtewandel so viel gesellschaftlicher Sprengstoff steckt, das möchte ich mit Andrej Holm besprechen. Der Sozialwissenschaftler erforscht die Gentrifizierung an der Berliner Humboldt-Uni. Rigaer Straße in Berlin oder Leipzig-Connewitz, täuscht der Eindruck, oder werden Linke vor allem bei Wohnraumprotesten gewalttätig?
Holm: Ich kann nicht so sehr die Motivation von gewalttätigen Protesten erörtern. Aber deutlich wird, dass offensichtlich da, wo Städte im Umbruch sind, wo bisherige Standards in der Wohnversorgung infrage gestellt werden, das offensichtlich ein großes Konfliktpotenzial hat, was sich dann auch in solchen Gewalttätigkeiten äußert.
Wir können ja ganz verschiedene Perspektiven darauf nehmen. Wir können sagen, das ist juristisch ein Landfriedensbruch, ethnografisch könnte man vielleicht sagen, da ist vielleicht eine Choreografie von gegenseitigen Provokationen von Protestierenden oder Autonomen und der Polizei, wir könnten psychologisch nach den Ursachen von Aggression fragen, wir könnten aber auch – und das ist ja meine Perspektive als Sozialwissenschaftlerin und Sozialwissenschaftler – solche Auseinandersetzungen als Indikator für gesellschaftliche Widersprüche verstehen.
Dann ist man relativ schnell bei den Wohnungsfragen, die in den letzten Jahren immer wieder auch Thema von diesen Gewaltausbrüchen waren, aber mein Thema sind nicht so sehr diese Gewaltausbrüche, sondern viel, viel stärker die dahinterliegenden Probleme.
Verdrängung ärmerer Menschen
Karkowsky: Sie haben schon sehr früh zum Thema Gentrifizierung geforscht, als einer der ersten, würde ich mal behaupten. Können Sie uns noch mal alle mitnehmen und definieren, was die Wissenschaft darunter genau versteht?
Holm: Die ersten, die dazu geforscht haben, die kamen nicht aus Deutschland, sondern das waren englische und amerikanische Forscherinnen, und die haben mit dem Begriff der Gentrification oder Gentrifizierung die Aufwertung von meist vernachlässigten Innenstadtteilen beschrieben, die notwendigerweise zu einer Verdrängung der ärmeren Bevölkerungsgruppen führte. Da sieht man schon an der Definition, es geht um einen Prozess der Stadtentwicklung und Stadtveränderung, die mit einem ungeheuren sozialen Sprengstoff, nämlich der Verdrängung verbunden ist.
In den aktuellen Diskussionen entkoppelt sich der politische und öffentliche Begriff der Gentrifizierung so ein bisschen von diesem wissenschaftlichen Konzept. Was bleibt, ist der Bezug, dass damit thematisiert wird, dass die Stadtentwicklung, wie wir sie kennen, dass die Wohnungsentwicklung, wie wir sie kennen, soziale Kosten produziert, die auch zu gesellschaftlichen Reibungen führen.
Karkowsky: Was ist denn die Kernkritik der Gentrifizierungsgegner, also was genau haben sie einzuwenden gegen die Aufwertung eines Stadtviertels?
Holm: Die Aufwertung, das bezieht sich ja nicht nur auf die baulichen Strukturen, sondern in der Regel ist eine Aufwertung vor allen Dingen ein ökonomischer Prozess, der Inwertsetzung. Das heißt, da steigen die Preise, die Kaufpreise, die Mietpreise, und entsprechend ist in der Gesellschaft wie unserer, wo Einkommen auch sehr ungleich verteilt sind, dann ein sehr selektiver Zugang zu der Wohnungsversorgung möglich nur noch.
Es kommt zu Ausgrenzungsprozessen, und es kommt auch zu Verdrängungsprozessen, dass man aus den angestammten Wohnvierteln verdrängt wird, dass man vielleicht in schlechtere Wohnlagen umziehen muss. Das ist ein Problem, was wir vor allen Dingen in den großen Städten haben, in den wachsenden Städten. Leipzig ist eine Stadt, die gerade in den letzten Jahren einen starken Bevölkerungszuwachs erlebt hat und später als andere in diese Verdrängungs- und Aufwertungsspirale hineinwächst.
Karkowsky: Dann sind Gentrifizierungsgegner also eigentlich Konservative, weil sie wollen, dass alles so bleibt, wie es ist, Linkskonservative?
Holm: Es sind vor allen Dingen diejenigen, die die sozialen Kosten der sozusagen Verwertungsökonomie und der Stadtentwicklung in den Mittelpunkt stellen. Das kann man konservativ finden, aber es ist, vor allen Dingen eine Notwendigkeit, weil wir in vielen ökonomischen Prozessen die soziale Frage immer erst an zweiter Stelle thematisieren. Ist es produktiv oder ist es konservativ - geht für mich am Thema vorbei.
Modell der Wächterhäuser in Leipzig
Karkowsky: Hören wir da noch mal dem sächsischen Ministerpräsidenten zu, Michael Kretschmer von der CDU, der sagt: "Wir haben allen Grund, gerade jetzt 30 Jahre nach der friedlichen Revolution und nach der Deutschen Einheit, das Eigentum auch zu schützen. Wer ein Grundstück besitzt, wer ein Haus besitzt, hat das Recht, es zu renovieren und zu vermieten, und da kann es nicht sein, dass da Leute gegen vorgehen und mit Farbe werfen oder anzünden oder Barrikaden machen. So etwas dürfen wir uns nicht im Ansatz bieten lassen." Macht er da einen Punkt, oder ist Ihnen das zu kurz gedacht?
Holm: Es ist ein bisschen kurz gedacht, weil Leipzig eine ganz lange Tradition sozialen Gewährenlassens hat. Anlass dieser Demonstration war auch eine polizeiliche Räumung einer Hausbesetzung. Wenn wir zurückschauen, dann war es in der DDR so, dass das Schwarzwohnen, also der illegale Bezug von Wohnungen weitgehend geduldet war, nicht strafrechtlich verfolgt wurde.
Nach der Wende wurden besetzte Häuser in Leipzig wie in vielen anderen ostdeutschen Städten legalisiert, zum Teil sogar mit Fördergeldern ausgestattet. Dann hat Leipzig in den 2000er-Jahren noch dieses Modell der Wächterhäuser etabliert, wo junge Leute entgeltfrei in Häuser einziehen konnten, die leer standen, weil sie nicht verwertet werden konnten.
Heute, wo das Eigentum tatsächlich in Geld umgemünzt werden kann, jetzt kommt der Ministerpräsident in dem Fall, jetzt kommen andere und sagen, dieses Eigentum muss geschützt werden. Also Leipzig hat eine ganz lange Tradition, in der das selbstbestimmte Wohnen in leerstehenden Häusern die soziale Realität für viele Leute dargestellt hat. Aus meiner Sicht ist das, was wir jetzt in Leipzig erleben, auch eine Form der relativ gewaltsamen Auseinandersetzung und Aushandlung, dass dieser neue Standard jetzt auch in Leipzig gelten soll, dass Eigentum geschützt sein muss und nicht mehr hauptsächlich dem Wohnen dienen soll.
Der Szenestadtteil Connewitz
Karkowsky: Warum immer wieder Connewitz? Sie kennen doch sicherlich diesen Stadtteil. Wer hat da genau wen verdrängt?
Holm: Connewitz gilt als Szenehochburg und Szenestadtteil. Es ist der Ort, wo es die meisten besetzten Häuser in der Nachwendezeit gab, die da auch eine relativ dauerhafte Infrastruktur entwickeln konnten mit Wohnhäusern, mit vielen Kneipen, Clubs und Einrichtungen.
Es ist nicht so sehr der Ort, an dem die Verdrängung oder die Wohnungsnot im Moment am deutlichsten sichtbar ist, sondern das ist der Ort, an dem diejenigen wohnen, die in dieser Choreografie von Provokation und Exzessen und Gewalt auf die Straße gehen. Das sieht man auch, wenn man sich Leipzig anschaut, also die Schwerpunkte dieser Hausbesetzung. Da, wo die wohnungspolitischen Aktivitäten stattfanden, die liegen nicht mehr in Connewitz, sondern auch in anderen Stadtteilen.
Karkowsky: Wie groß ist denn Ihr Verständnis für die Proteste da in Connewitz und vor allen Dingen auch für die Art, wie sie ablaufen?
Holm: Wenn wir Verständnis als Verstehenwollen, was dort passiert, interpretieren, dann ist es relativ deutlich, dass da eine wohnungspolitische Auseinandersetzung geführt wird. Ich glaube, dass die ritualisierte Distanzierung von Gewalt, genauso wenig wie die verbale Aufrüstung, jetzt muss mehr Polizei dort durchgreifen, dass uns das hindern wird, die Ursachen von solchen Konflikten tatsächlich zu erkennen und dann vielleicht auch politisch zu bearbeiten.
Ich bin jetzt kein Freund von gewalttätigen Auseinandersetzungen, aber aus meiner Sicht führt diese Form der Distanzierung und Beschäftigung, warum kommt es dort zu Exzessen, am eigentlichen Thema vorbei. Das wohnungspolitische Problem wird ja bestehen bleiben, selbst wenn wir die Konstellationen, die es in Connewitz oder in anderen Stadtteilen gibt, wo es regelmäßig Auseinandersetzungen mit der Polizei gibt, verstehen, ändert das nichts an den dahinterliegenden Problemlagen der Gesellschaft. Die sollten wir in den Vordergrund stellen.
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