Andrej Kurkow: "Graue Bienen"

Ein scharfes Bild des Ukraine-Konflikts

05:30 Minuten
Der Held ist mobiler Bienenzüchter, daher macht er sich im Frühling mit seinen Bienenstöcken auf die Reise.
Der Held ist mobiler Bienenzüchter, daher macht er sich im Frühling mit seinen Bienenstöcken auf die Reise. © Diogenes
Von Sigrid Löffler · 01.08.2019
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Mit seinem Roman "Graue Bienen" begibt sich Andrej Kurkow auf brisantes Terrain: Sein Thema sind die Leiden der Zivilbevölkerung in der Ostukraine. Er beschreibt den Alltag kleiner Leute, die zwischen die Frontlinie geraten sind.
Andrej Kurkow, Jahrgang 1961, ist ein äußerst produktiver ukrainischer Autor mit Wohnsitz in Kiew. Obwohl er zur russischsprachigen Bevölkerung der Ukraine zählt und seine Romane auf Russisch schreibt, ist er ein hartnäckiger Kritiker von Wladimir Putins Ukraine-Politik. Er wirft ihm vor, in der Ostukraine, in den abgespaltenen Gebieten Lugansk und Donezk, einen latenten Bürgerkrieg zu schüren, um das Land zu destabilisieren.
Mit seinem jüngsten Roman "Graue Bienen" begibt sich Kurkow auf politisch brisantes Terrain: Sein Thema sind die Leiden der Zivilbevölkerung in der Ostukraine, auf deren Rücken der Konflikt ausgetragen wird. Mit großer Anschaulichkeit und Detailgenauigkeit erzählt der Autor vom mühsamen und lebensgefährlichen Alltag kleiner Leute, die das Pech haben, im umkämpften Grenzgebiet zu Donezk zu leben und so zwischen die Frontlinien geraten zu sein.

Strom halbstundenweise pro Tag

Hauptschauplatz ist ein Dorf im Niemandsland der sogenannten Grauen Zone im Kampfgebiet zwischen der ukrainischen Armee und prorussischen Separatisten im Spätwinter 2016. Die meisten Einwohner sind vor den ständigen Raketenangriffen beider Seiten geflüchtet, ihre Häuser stehen leer, die Kirche ist zerbombt, seit drei Jahren gibt es Strom bestenfalls halbstundenweise pro Tag.
Nur zwei Frührentner, der Hobbybienenzüchter Sergejitsch und Paschko, dessen Feind seit Kindheitstagen, harren noch im Dorf aus, ohne Fernsehen, ohne Radio, ohne Dorfladen, im niederdrückenden Grau in Grau des Wetters und der Umwelt. Sergejitsch ist Anhänger einer integralen Ukraine; Paschko sympathisiert mit den prorussischen Milizen, "unseren Verteidigern". Die beiden stehen damit exemplarisch für die verfeindeten Bevölkerungsteile im Donbass mit ihren konträren politischen Sympathien.
Doch die tägliche Bedrohung durch die Artilleriescharmützel zwischen Armee und Milizen sowie die Mühsal, das eigene Überleben zu organisieren, zwingen die beiden "Feindfreunde" zu nachbarlicher Hilfe und bringen sie einander näher. Am "Tag des Postfriedens" etwa, als die Kämpfe ruhen, damit in den Dörfern der Grauen Zone die Post ausgefahren werden kann, sortieren die beiden einträchtig die Dorfpost und verteilen sie in den leeren Häusern.
Sergejitsch sieht sich als Einwohner eines Kriegs, an dem er nicht teilnimmt – als "Kriegseinwohner". Das leere Dorf und die zähen Spätwintertage im Warten auf den Frühling machen ihm nicht zu schaffen: "Im Gegenteil, die Menschenleere half, sich und sein Leben besser zu verstehen."

Drangsalieren, verschleppen, umbringen

In den Stillstand der ersten Romanhälfte kommt schließlich Bewegung, als Sergejitsch im Frühling seine sechs Bienenstöcke auf den Anhänger seines Schiguli hievt und sich durch alle Checkpoints nach Westen durchwindet, um seine Bienen dorthin zu bringen und frei fliegen zu lassen, wo es still ist und kein Krieg herrscht. Der Roman nimmt jetzt die Züge einer Road Novel an.
Doch egal, ob nahe einem Dorf im Gebiet von Saporoschje oder im tatarischen Hinterland der annektierten Krim: Der Krieg verfolgt den Helden, sei es in Gestalt feindseliger Dörfler oder russischer Geheimdienstler, die die Krimtataren wie seit jeher schikanieren, drangsalieren, verschleppen, umbringen oder in den russischen Kriegsdienst zwingen.
Immer deutlicher werden die Bienen in ihren Stöcken als Gegenmodell eines wohlgeordneten und produktiven Staatswesens erkennbar, verglichen mit dem unproduktiven und gewalttätigen Chaos der ostukrainischen Gesellschaft. Ihr friedliches sommerliches Summen bildet den Kontrast zum nächtlichen Donnern der Granateneinschläge. Dass sogar die Bienen ergrauen könnten, ist ein wiederkehrendes Bild in den Alpträumen des Helden. Andrej Kurkow ist mit "Graue Bienen" ein scharf gezeichnetes Bild des weiterschwärenden Kriegs in der Ukraine gelungen, von dem das übrige Europa seit langem den Blick abgewendet hat.

Andrej Kurkow: "Graue Bienen"
Aus dem Russischen von Johanna Marx und Sabine Grebing
Diogenes Verlag, Zürich 2019
445 Seiten, 24 Euro

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