Andrej Kurkow: „Samson und Nadjeschda“
© Diogenes
Der Säbelhieb der Gegenwart
Andrej Kurkow
Übersetzt von Johanna Marx und Sabine Grebing
Samson und NadjeschdaDiogenes, Zürich 2022364 Seiten
24,00 Euro
Andrej Kurkow ist ein Schriftsteller mit einem feinen Gespür für die Melancholie des Übergangs. Sein historischer Kriminalroman „Samson und Nadjeschda“ führt zurück nach Kiew im Jahr 1919 – und ist gleichzeitig erschreckend aktuell.
Kiew im Frühjahr 1919: Vor wenigen Wochen haben die Bolschewiki die Stadt übernommen, es herrschen noch immer bürgerkriegsähnliche Zustände. Samson, ein junger Mann, ist mit seinem Vater unterwegs, als plötzlich ein Trupp berittener Kosaken auf sie zuprescht und sie auf offener Straße attackiert.
Der erste Säbelhieb zerteilt den Schädel des Vaters, der zweite Hieb schlägt Samson ein Ohr ab. Er überlebt den Angriff, aber als Samson in der Nemezkaja-Straße blutüberströmt neben dem Leichnam seines Vaters steht, weiß er, dass „ein Strich unter sein vergangenes Leben“ gezogen wird: ein gewaltsam erzwungener Aufbruch in eine neue Zeit.
Für die Ordnung kämpfen
Andrej Kurkow hat mit „Samson und Nadjeschda“ einen historischen Kriminalroman über einen der vielen tragischen Wendepunkte der ukrainischen Geschichte geschrieben. Nachdem er seinen Vater begraben hat, taumelt Samson mit seinem Kopfverband durch Kiew, verliebt sich zögerlich in die begeisterte Bolschewistin Nadjeschda, die im Gouvernementsbüro eifrig Statistiken für die neuen Machthaber zusammenstellt, und bekommt dann – als er sich auf einer Milizwache über die Requirierung des väterlichen Schreibtisches beschweren will – überraschenderweise einen Posten als Polizist angeboten.
„Ich werde für die Ordnung kämpfen“, nimmt er sich vor, nur um schnell festzustellen, dass es schon lange keine Ordnung mehr gibt. Banden von Rotarmisten ziehen plündernd durch Kiew – und Samsons erster Fall als frischgebackener Milizionär besteht darin, vor diesem Hintergrund eine Reihe von Silberdiebstählen aufzuklären.
Bezaubernde Passagen über traurigen Hirsebrei
Andrej Kurkow ist ein Schriftsteller mit einem feinen Gespür für die Melancholie des Übergangs: Bekannt wurde er mit dem Roman „Picknick auf dem Eis“ (dt. 1999), in dem er einen depressiven Pinguin auf einen Spaziergang durch die postsozialistische Gesellschaft schickte, zuletzt hat er mit „Graue Bienen“ (dt. 2019) einen leisen Roman über einen Imker und die Zerstörung des Donbass durch den Ukraine-Konflikt geschrieben. Auch „Samson und Nadjeschda“ wird von diesem wehmütigen Sound getragen: Es gibt bezaubernde Passagen über den traurigen „Hirsebrei mit Soße“ in den neu eingerichteten „sowjetischen Kantinen“ oder über die Geldscheine aus der Zarenzeit, die noch immer frisch „knackten und knisterten“, obwohl sie längst nichts mehr wert sind.
Raketenangriffe und Bilder zerstörter Städte
Das Alte verblasst, das Neue schmeckt fad, und keiner schreibt darüber so schön wie Andrej Kurkow – der im Moment als engagierter Präsident des ukrainischen PEN in den Medien sehr präsent ist. „Samson und Nadjeschda“ hat er allerdings bereits 2020 geschrieben und in der Ukraine veröffentlicht, also noch vor Beginn des russischen Angriffskriegs.
Die deutsche Übersetzung dieses stillen, unspektakulären Krimis erscheint jetzt in einer anderen Welt, in der sich die verstörenden Nachrichten aus der Ukraine über Kurkows zarte Prosa legen. Wenn er Samson darüber sinnieren lässt, dass man in Kiew 1919 „beim Verlassen des Hauses nicht sicher sein konnte, ob man zurückkam“ und darum das „Allerwichtigste, Fotos der Liebsten, Dokumente, gewiss bei sich in der Tasche nahe am Herzen“ trug, denkt man unwillkürlich an die jüngsten Raketenangriffe, die Bilder zerstörter Städte und die letzten Zahlen über zivile Opfer.
Darum muss man „Samson und Nadjeschda“ lesen: Es ist ein historischer Kriminalroman, der ohne sein eigenes Zutun zu einem Roman über die Gegenwart geworden ist – und zu einem Roman über ein Verbrechen von historischer Dimension.