Androgyn statt mädchenhaft

Ländlich-urwüchsig, naiv-gutherzig und Sinnbild der Schweiz: Das ist "Heidi", der wohl bis heute kein Kind entkommen kann. Peter Stamm hat die Geschichte von Johanna Spyri eingedampft und neu erzählt. Dabei ist die Titelheldin vor allem in den Illustrationen weniger mädchenhaft und viel unbeschwerter geworden.
Seit fast 130 Jahren ist Johanna Spyris Ur-Heidi jetzt auf der Welt - "Heidis Lehr- und Wanderjahre" erschien 1880, übrigens zuerst in Deutschland, ein Jahr später folgte "Heidi kann brauchen, was es gelernt hat". Kaum eine Buchfigur ist so in der Welt herumgekommen, erst recht keine aus dem hintersten Winkel einer insgesamt sehr unzugänglichen Landschaft wie den Schweizer Alpen.

Übersetzt in über 50 Sprachen, in unzähligen deutschsprachigen Ausgaben erschienen, von verschiedensten Künstlern illustriert, als Anziehpüppchen vermarktet, in Fernsehserien, Musicals, Zeichentrickfilmen und Comics verwurstet und zumeist verkitscht, in all dem gerann das kleine Vorschulmädchen zum Paradigma.

Heidi - das ist die Schweiz, wie die Kuckucksuhr der Schwarzwald ist. Überall auf der Welt, außer in der Schweiz (und im Schwarzwald) selbst. Heidi - das ist zweitens ein zur Ikone verklumptes Mädchenbild. Mehr als "Trotzköpfchen" und "Nesthäkchen". Heidi ist die urwüchsig-ländlich-kindliche Matrix der industrialisiert-urbanen jungen Frau Barbie.

Dabei ist Heidi grammatikalisch gesehen nicht mal weiblich, sondern in Spyris Schweizer (und Süd-)Deutsch konsequent das Heidi: So geschlechtslos, so weit entfernt von jeglicher erogenen Konnotation, wie eine pädagogisch-aufklärerisch ambitionierte Schriftstellerin aus pietistischem, kultivierten Schweizer Arzthaushalt es nur inszenieren kann. Ein Naturkind, das den misanthropischen Alpöhi aufweicht, den bildungsscheuen Geißenpeter alphabetisiert, die böse Großstadt überlebt und das arme reiche Stadt-Mädchen von der Lähmung heilt.
Jetzt hat der Züricher Verlag Nagel & Kimche zwei renommierte Schweizer ans Werk geschickt, die alte Geschichte noch einmal zu erzählen. Der Schriftsteller Peter Stamm hat die gut 300 Seiten der beiden Originalbände eingedampft auf knapp 40, wenn man ein Normalformat mit großen Lettern zugrunde legen würde.

In diesem schön gestalteten Querformat sind es etwa 20 Seiten konsequent spröder Prosa, die allerdings eine Inkonsequenz hat: Das Heidi zieht mal "seine", mal "ihre" zu warmen Kleider aus. Aber dies ist vor allem ein Bilderbuch, und die Bilder hat der grandiose Hannes Binder in seiner berühmten Technik geschaffen.

Er selbst nennt sie "negatives Zeichnen": Er projiziert Handskizzen - oft nach Fotos - auf Karton, der erst mit mehreren Kreideschichten überzogen und dann mit schwarzem Mattlack besprayt worden ist. Nach "einer Art Lichtregie" schabt und kratzt er dann mit dem Federmesser die Linien aus der Lackschicht heraus. Ein so geräuschvolles wie mühsames Unterfangen, bei dem unglaublich dynamische, dichte Bilder entstehen, aufgeladen mit Tempo, Bewegung und Atmosphäre, zumeist in Schwarz und Weiß.

Die Heidi-Illustrationen dagegen sind alle koloriert, und so kann man diesen meisterlichen Künstler, der schon die Glauser-Werke so meisterlich in Bilder übersetzt hat, noch einmal neu entdecken. Seine Stadtbilder mit den kühlen blaugrün-stichigen Häuserschluchten, die Interieurs mal im warmen Braun beim Alpöhi, mal eher grau und blau bei den reichen Städtern, die blassvioletten Bergspitzen über den schwarzgrünen Wäldern, die split screens, in denen verschiedene Zeiten oder verschiedene Orte ineinander übergehen - lauter Gegen-Bilder zur gängigen Heidi-Ikonik.

Heidi selbst, übrigens, könnte auf manchen Bildern direkt aus "Onkel Toms Hütte" winken. Und da, wo eindeutige Mädchenkleidchen fehlen, hat dieses Heidi etwas unbeschwert Androgynes.

Rezensiert von Pieke Biermann

Hannes Binder/Peter Stamm: Heidi
Nach der Geschichte von Johanna Spyri
Nagel & Kimche, Zürich 2008
48 Seiten mit durchweg farbigen Illustrationen, 16,90 Euro