Anerkennung der Oder-Neiße-Linie

Von Helga Hirsch |
In den ersten zwei Jahrzehnten nach Ende des Zweiten Weltkriegs gab es keine offiziellen Kontakte zwischen der Bundesrepublik und Polen. 1972 nahmen Bonn und Warschau diplomatische Beziehungen auf; zu freundschaftlichen Beziehungen kam es jedoch erst, als die Bundesrepublik am 14.11.1990 die Oder-Neiße-Linie als polnische Westgrenze anerkannte.
"Konfrontation und Kalter Krieg in Europa liegen endgültig hinter uns. Und wir Deutsche, die mehr als andere unter dieser Entwicklung gelitten haben, sind verständlicherweise die Ersten, die diesen Wandel begrüßen", "

so Bundeskanzler Helmut Kohl über die Unterzeichnung des deutsch- polnischen Grenzvertrages am 14. November 1990. Das umstrittenste Thema in den deutsch-polnischen Beziehungen war endlich einvernehmlich geregelt worden - nach 45 Jahren, in denen es oft eingesetzt worden war, um Ängste zu schüren oder Drohkulissen aufzubauen.

Bonn hat sich immer auf das völkerrechtlich nicht verbindliche Potsdamer Abkommen bezogen und die endgültige Regelung einem zukünftigen Friedensvertrag vorbehalten. Polen und die DDR hingegen erkannten die Oder-Neiße-Linie bereits 1949 als deutsch-polnische Staatsgrenze an. Polen schienen die alten deutschen Ostgebiete unverzichtbar. Dazu der Historiker Krzysztof Ruchniewicz:

" "Diese Frage hatte eine existenzielle Bedeutung für den polnischen Staat, nachdem die Sowjetunion die polnischen Gebiete jenseits des Bugs 1939 besetzt hatte. Vom polnischen Vorkriegsterritorium fand sich nurmehr die Hälfte in den neuen Grenzen wieder."

Mit dem Grundlagenvertrag von 1970 trug Bundeskanzler Willy Brandt der Übernahme ostdeutscher Gebiete durch Polen zwar Rechnung. Man würde gegeneinander - so hieß es - "keine Gebietsansprüche" erheben. Faktisch war die Grenze damit anerkannt. Juristisch hingegen bekräftigte das Bundesverfassungsgericht 1975 noch einmal: Veränderungen im territorialen Status von Deutschland könnten völkerrechtlich verbindlich allein von den vier Siegermächten vorgenommen werden.

Der Durchbruch kam erst 1989/90 - allerdings selbst dann erst nach einigen Geburtswehen. Warschau reagierte erschrocken, als Helmut Kohls Zehnpunkteprogramm für die Wiedervereinigung Deutschlands keine Aussagen zur endgültigen Anerkennung der polnischen Westgrenze enthielt. Dazu der polnische Historiker Antoni Dudek:

"Diese Tatsache führte zu einer monatelangen Kampagne der Mazowiecki-Regierung. Warschau verlangte eine Garantieerklärung für die Grenze noch vor der Vereinigung Deutschlands; darüber hinaus wollte es zu den Arbeiten der internationalen Friedenskonferenz über Deutschland "Zwei plus vier" zugelassen werden."

Es dauerte ein ganzes Jahr, bis eine einvernehmliche Lösung gefunden wurde. In Polen lebten alte Ängste vor dem deutschen Erbfeind wieder auf, Tadeusz Masowiecki erwog sogar, den Abzug der sowjetischen Truppen von der Lösung der "deutschen Frage" abhängig zu machen. Helmut Kohl hingegen reagierte verärgert und gekränkt. War es denn nicht sinnvoll, den Grenzvertrag erst mit einem wiedervereinigten Deutschland als neuem Souverän zu unterzeichnen? Zweifelte Warschau etwa an der Verlässlichkeit deutscher Politik? Kohl konterte, indem er im März 1990 eigene Vorbedingungen ins Spiel brachte.

"Bonn Kanzleramt: Für alle überraschend verknüpft Helmut Kohl eine Garantieerklärung für die Oder-Neiße-Grenze mit zwei Forderungen an den polnischen Nachbarn."

Kohl forderte erstens die Anerkennung der Rechte der deutschen Minderheit in Polen und zweitens den ausdrücklichen Verzicht Polens auf jede weitere Reparationsleistung Deutschlands für Kriegsschäden. Warschau lehnte beides umgehend ab, war aber schließlich doch zu einem Kompromiss zu bewegen. Bei den Zwei-plus-vier-Gesprächen über die deutsche Einheit im Juli 1990 wurde Außenminister Krzysztof Skubiszewski die Teilnahme bei der Beratung der deutsch-polnischen Grenze zugestanden. Bonn konnte dafür an seiner Reihenfolge festhalten: Gut sechs Wochen nach der Wiedervereinigung, am Mittag des 14. November 1990, unterzeichneten Skubiszewski und sein deutscher Amtskollege Hans-Dietrich Genscher den Vertrag über die endgültige deutsch-polnische Staatsgrenze. Ein Korrespondent berichtete aus Warschau:

"Im Anschluss daran sprach Hans-Dietrich Genscher von einem schicksalhaften Schritt für die Zukunft Europas. Die Deutschen seien sich bewusst, dass der Vertrag nichts aufgebe, was nicht längst verloren gewesen sei - als Folge eines verbrecherischen Krieges und eines verbrecherischen Systems. Auf der einen Seite sagte Genscher, die Bestätigung der bestehenden Grenze sei eine freie Entscheidung der Deutschen, meinte auf der anderen Seite aber auch, dass dies keine leichte Entscheidung sei, auch nicht für ihn selber."