Als Angela Merkel 2013 in ihren dritten Wahlkampf um das Amt der Bundeskanzlerin zog, versicherte sie ihren Wählerinnen und Wählern: "Sie kennen mich." Das gilt auch für dieses Buch. Wer es liest, lernt keine neue Angela Merkel kennen. 700 Seiten bleiben ohne vordergründige Überraschungen.
Wer ernsthaft erwartet hat, Merkel werde Grundentscheidungen ihrer Politik, ihre Haltung in der Flucht- und Migrationskrise 2015, den Atomausstieg, ihren Widerstand gegen einen schnellen
NATO-Beitritt der Ukraine 2008 rückblickend infrage stellen, wird enttäuscht sein. Oder eben bestätigt im Bild einer Politikerin, die immer für sich in Anspruch genommen hat, die Dinge vom Ende her zu denken – und auch im Rückblick davon überzeugt ist, sich nicht grundlegend getäuscht zu haben.
"Erste. Das war ich."
Aber in den vielen denkwürdigen Szenen, die Merkel schildert, liefert sie Erklärungen, bietet Einblicke, die, wenn nicht überraschen, dann doch erstaunen. Da ist zum Beispiel der 22. November 2005, fast auf den Tag genau vor 19 Jahren, als Merkel Bundeskanzlerin wurde. Heute gesteht sie: „An den Moment, in dem Horst Köhler mir die Ernennungsurkunde überreichte, habe ich keinerlei Erinnerung mehr, alles verlief wie im Rausch.“
Merkel ist erfüllt von Gefühlen des Glücks und dem Bewusstsein, dass etwas Historisches geschieht: „Erste. Das war ich.“
Sie lässt diese vier Worte frei zwischen den Absätzen stehen, wie ein Kapitel für sich. Dann schildert sie, wie sie erstmals auf dem Stuhl am linken Ende der Regierungsbank Platz nahm. Man würde erwarten, dass neue Amtsinhaber in diesem Augenblick spüren, wie sich die Last der Verantwortung auf ihre Schultern senkt. Merkel aber ist anders.
Ich setzte mich. Niemand außer mir saß auf der Regierungsbank, vier leeren Stuhl- und Tischreihen neben und hinter mir, nur ich ganz vorne am Rand. Das war mein Platz. In dieser Sekunde fiel alle Last von mir ab. Wie weggeblasen waren die Zweifel, die mich noch vier Tage zuvor bei der Unterzeichnung des Koalitionsvertrages geplagt hatten, ob ich der Aufgabe gerecht werden würde.
Erklärung für Zitteranfälle
Der Moment erscheint fast als Augenblick der Freiheit. 16 Jahre und knapp 350 Seiten ihrer Autobiografie später spürt Merkel, wie das Amt an ihren Kräften gezehrt hat. Im Sommer 2019, sie hat bereits erklärt, dass sie nicht für eine weitere, fünfte Wahl kandidieren wird, wird sie beim Antrittsbesuch des ukrainischen Präsidenten Selenskyj vor laufenden Kameras von Zitteranfällen geschüttelt.
Während die Nationalhymnen gespielt wurden, breitete sich das Zittern im ganzen Körper aus. Ich wankte, versuchte mithilfe meiner Arme, über die ich etwas mehr Gewalt hatte, als über meine Beine, zu stabilisieren (…). Nichts half.
Die beunruhigenden Symptome luden damals zu allen möglichen Spekulationen ein, im Rückblick ließen sie sich als düstere Vorzeichen für die kommenden Ereignisse in der Ukraine deuten. Merkel aber nimmt fast dankbar wahr, dass die Mechanik des Körpers ihr jedes weitere Psychologisieren abnimmt.
Eine Osteopathin erklärte mir, dass mein Körper dabei war, Spannungen abzubauen, die er über lange Zeit aufgebaut hatte, nicht nur nach dem Tod meiner Mutter im Frühjahr, nach dem ich kaum Zeit zum Trauern gefunden hatte, sondern auch im Prozess des Loslassens von meinen Ämtern. Eigentlich eine gute Nachricht …
Sphäre der Verschwiegenheit
Die Erklärung für ihre ungewöhnliche körperliche und mentale Konstitution liefert Merkel im ersten Drittel des Buches, das sie ihrer Kindheit und Jugend in der DDR widmet. Ein Leben in einer Doppelwelt, geprägt von einer unbeschwerten Kindheit auf dem Waldhof bei Templin, der evangelischen Einrichtung für Menschen mit geistigen Behinderungen, in der ihr Vater als Pfarrer wirkte.
Damals war ich noch so unbedarft, dass ich jedem alles erzählen wollte. Das änderte sich im Laufe meines Lebens.
Der Schutz eines Arkanbereichs, einer Sphäre der Verschwiegenheit und Undurchdringbarkeit, prägt auch das Buch Merkels. Die Schilderung der Kanzlerinnenjahre geraten zu einer zuweilen ermüdenden Abfolge von Abflügen und Ankünften, Begegnungen mit den Staatslenkern ihrer Zeit, Gipfeltreffen.
Das ist die Krux des Genres. Merkel bedient es ohne die literarische Eleganz Barack Obamas, ohne den Ton belehrender Weltendeutung Helmut Schmidts, ohne die trotzige Selbstgewissheit Gerhard Schröders.
Wohlwollen für Friedrich Merz
So frei wie von ernsthaften Selbstzweifeln ist das Buch auch von persönlichen Abrechnungen. Putins Brutalität erkennt sie nüchtern auch in den vielen persönlichen Begegnungen. Kein anderer Name taucht häufiger auf als der des russischen Präsidenten.
Innenpolitische Rivalen und parteiinterne Gegner werden geradezu mit Missachtung übergangen. Die persönlichen Spannungen und gegenseitigen Enttäuschungen im Verhältnis zu Wolfgang Schäuble werden knapp erwähnt, der Bruch mit Horst Seehofer konstatiert. Der Blick auf Friedrich Merz ist milde und wohlwollend.
"Er war und ist ein brillanter Redner, er hatte mich in der Spendenaffäre unterstützt“, schreibt Merkel über Merz, als handele es sich um einen talentierten Nachwuchspolitiker. „Aber es gab nur ein Problem, und zwar von Beginn an: Wir wollten beide Chefs werden.“
Und es sieht ja aus, als könne die Geschichte auch für ihren einstigen Gegenspieler noch zu einem für ihn guten Ende führen.