Angelika Klüssendorfs "Vierunddreißigster September"

Ein Axtmord auf dem Lande

56:19 Minuten
Auf einer kargen Wiese steht ein Holzbock, in dem eine Axt steckt
Es gibt Tage, da will man nur noch zur Axt greifen. In Angelika Klüssendorfs "Vierunddreißigster September" gereicht das der Hauptfigur nicht zum Vorteil. © Unsplash/Jason Abdilla
Moderation: Andrea Gerk · 26.05.2022
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Einer Hauptperson wird zu Beginn der Schädel gespalten – von der eigenen Frau. Doch kein Kommissar ermittelt in Angelika Klüssendorfs „Vierunddreißigster September“, sondern der Tote. Er will etwas über sich herausfinden. Ein etwas anderer Dorfroman.
„Ich habe es mit wütenden Männern“, sagt Angelika Klüssendorf im Literaturhaus Berlin, dem Kooperationspartner von Deutschlandfunk Kultur für die Reihe „Literatur und Wissenschaft“.
In ihrem etwas anderen Dorfroman „Vierunddreißigster September“ gibt es gleich zwei dieser wütenden älteren Männer. Einen von ihnen lässt sie zu Beginn des Romans von der Ehefrau umbringen: „Sie hätte das Gewehr nehmen können, entschied sich aber für die Axt.“
Hilde geht nach der Spaltung des Ehegattenkopfes durchs Schneetreiben hinüber in das Nachbarhaus der Schriftstellerin, um beschwingt Silvester zu feiern. Der wütende Walter war ihr in den letzten Wochen einfach zu freundlich geworden. Vielleicht war sie auch nur barmherzig. Denn der Grund für seine erstaunliche Wesensveränderung war ein schnell wachsender Hirntumor.

Blicke auf wütende Männer

„Vierunddreißigster September“ ist ein lakonischer, mit sehr trockenem Humor erzählter Roman. Einige Männer sind wütend, einige Frauen verlassen das Dorf, ein Inder kommt zu Besuch, auch Steven Spielberg schaut vorbei.
Im Gespräch mit dem Kulturgeografen Christoph Baumann erzählt Klüssendorf, die 1985 in die Bundesrepublik übersiedelte, wie sie nach dem Mauerfall in die Dörfer ihrer Kindheit und Jugend fuhr und dort wütenden Männer begegnete:
"Ich habe Männer gesehen, die fünf Jahre vor der Rente standen. Sie sind früh aufgestanden, haben früh um vier und fünf das Licht angemacht und Kreuzworträtsel gelöst, weil sie nichts mit sich anzustellen wussten. Sie wollten zur Arbeit fahren, aber die Arbeit ist ausgefallen. Und sie konnten dann auch nicht mehr umschulen, weil sie einfach zu alt waren und die paar Jahre bis zur Rente, das ging damals nicht. Die waren einerseits wütend, andererseits waren sie verzweifelt und hoffnungslos. Damals ist mir diese Art von Walter zum ersten Mal begegnet, und schon damals habe ich gedacht: Über diese Männer möchte ich gerne schreiben."

Die Toten und die Lebenden

Nun ist Walter durch den Axthieb nicht einfach verschwunden. Er wacht als Toter unter Toten wieder auf, ist so freundlich wie in seinen letzten Wochen und wundert sich, wie er zuvor nur so ein sauertöpfisches Ekel sein konnte. Also befragt er die anderen Toten, denkt über sein Leben nach und beobachtet die Dörfler. Walter wird zu einem Erzähler des Romans.
Solch ein Chronist und Beobachter des Dorfes sei der Traum jedes Sozialwissenschaftlers, meint der Kulturgeograf Christoph Baumann: "Walter muss die soziale Wirklichkeit nicht aus irgendwelchen Interviews rekonstruieren. Er stört die Rekonstruktion nicht durch sich selbst als teilnehmendem Beobachter, er kann Handlungen und Praktiken einfach beobachten und mehr noch: Er kann auch bis zu einem gewissen Grad Gedanken beobachten."
„Träume“, korrigiert Klüssendorf, „Fernsehen kommt nicht mehr infrage, aber die Toten können die Träume der Lebenden sehen und sind dann manchmal geschockt, weil sie sich selbst erkennen und denken: Oh mein Gott, so werde ich geträumt.“
Für Baumann ist dieser Walter ein vierfacher Forscher: „Er sucht nach seiner Wut, nach seiner Frau Hilde, er erforscht die soziale Dynamik des Dorfes, und er ist auch noch Traumdeuter à la Sigmund Freud.“
(pla)
Das Gespräch wurde erstmals am 28.11.2021 ausgestrahlt.

Angelika Klüssendorf: „Vierunddreißigster September“
S. Fischer Verlag
224 Seiten, 22 Euro

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