Angriff auf das zionistische Selbstverständnis Israels
Friedrich Schlegel war es, der einst bemerkte, der Historiker sei ein rückwärts gewandter Prophet. Shlomo Sand, Geschichtsprofessor an der Universität Tel Aviv, macht seiner Zunft in diesem Sinne alle Ehre – und erntet zu Hause in Israel herbe Kritik.
Er hat ein Buch geschrieben, das als frontaler Angriff auf das zionistische Selbstverständnis des Staates gelesen werden muss. Aufrüttelnd und leidenschaftlich ist es formuliert. In Israel 2008 erschienen, sorgte es für Aufregung – im eigenen Lande gilt der Prophet nichts. In Europa hingegen – mit 50.000 verkauften Exemplaren allein in Frankreich – stößt es auf reges Interesse und wird überwiegend positiv aufgenommen.
"Die Erfindung des jüdischen Volkes" unterzieht auf gut 500 Seiten Israels Gründungsmythos einer kritischen Prüfung – und richtet sich gegen die Vorstellung vom Judentum als ethnischem Kollektiv.
Shlomo Sand, geboren 1946 in einem österreichischen DP-Camp als Kind polnischer Holocaust-Überlebender, wuchs in Israel auf. Als Jugendlicher in Jaffa mit Arabern befreundet, packte ihn der Ekel, als er 1967 als Soldat an der Eroberung Jerusalems teilnahm. Er berichtet in seinem Buch sehr persönlich von der Verzweiflung, die der Sieg der israelischen Streitkräfte damals in ihm auslösten. Sand verließ bald darauf sein Heimatland und studierte in Paris. Inzwischen ist er zurückgekehrt und festangestellter Professor für Geschichte an der Universität in Tel Aviv.
Sand weist nun nach, dass die Behauptung, Juden seien ein Volk und direkte Nachfahren alter Judäer aus den Tagen der Bibel, wissenschaftlich unhaltbar ist. Er entlarvt den zionistischen Gründungsmythos als politisch motivierte Erfindung des 19. Jahrhunderts und attackiert ihn vehement. Er verweist darauf, dass ein Jude in Kiew und ein Jude in Casablanca vor 500 Jahren keine Alltagskultur teilten. Sie hätten weder Sprache, Musik, Kleidung oder Speisen gemeinsam gehabt. Verbunden seien sie höchstens durch die Praxis religiöser Vorschriften und Praktiken gewesen.
Dementsprechend schlägt Sand vor, Judentum als Religion zu definieren - und eben nicht ausschließlich ethnisch.
Die Stoßrichtung seiner Untersuchung, die den Auszug aus Ägypten ebenso als Legende beschreibt wie das jüdische Exil nach Zerstörung des Tempels, weist eindeutig in Gegenwart und Zukunft seines Heimatlandes. Das Selbstverständnis Israels als jüdischer Staat ist für Sand unvereinbar mit seiner Existenz als Demokratie im Nahen Osten. Der Mythos, heimzukehren "ins Land der Väter" sei einst wichtig gewesen, um den Staat aufzubauen. Doch die Thora dürfe nicht weiterhin als Geschichtsbuch verstanden werden, als Rechtfertigung auf palästinensischen Boden zu siedeln.
Der Autor plädiert für ein demokratisches Israel, in dem Palästinenser und Angehörige anderer Nationalitäten die gleichen Rechte besitzen - was nur möglich sei, wenn man von der ethnischen Definition des Jüdischen absähe. Der Abzug aus den besetzten Gebieten ist für den Historiker selbstverständlich, er unterstreicht aber ausdrücklich das Existenzrecht Israels als Staat. Russische, nichtjüdische Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion müssten darin die gleichen Rechte haben wie seine arabischen Studenten oder er selbst.
Die historischen Erkenntnisse in Sands Buch sind für Israelis nicht neu, in ihrer Bündelung aber eine Herausforderung. Fordert der Autor seine Landsleute doch auf, Konsequenzen aus der zunehmend auswegslosen, politischen Situation im Land zu ziehen und den geschichtsmächtigen Mythos des Zionismus zu verabschieden. Sand beschwört die Israelis, ihre Identität im 21. Jahrhundert neu zu definieren - um eine drohende Katastrophe zu vermeiden.
Zum Autor:
Geboren 1946 in Linz. Mit seinen Eltern, polnischen Holocaust-Überlebenden, 1948 nach Israel ausgewandert. Soldat im Sechs-Tage-Krieg 1967. Studium der Sozialwissenschaften in Paris. Sand lehrt Geschichte an der Universität Tel Aviv.
Besprochen von Carsten Hueck
Shlomo Sand: Die Erfindung des jüdischen Volkes. Israels Gründungsmythos auf dem Prüfstand
Aus dem Hebräischen von Alice Meroz
Propyläen Verlag, Berlin 2010
505 Seiten, 24,95 Euro
"Die Erfindung des jüdischen Volkes" unterzieht auf gut 500 Seiten Israels Gründungsmythos einer kritischen Prüfung – und richtet sich gegen die Vorstellung vom Judentum als ethnischem Kollektiv.
Shlomo Sand, geboren 1946 in einem österreichischen DP-Camp als Kind polnischer Holocaust-Überlebender, wuchs in Israel auf. Als Jugendlicher in Jaffa mit Arabern befreundet, packte ihn der Ekel, als er 1967 als Soldat an der Eroberung Jerusalems teilnahm. Er berichtet in seinem Buch sehr persönlich von der Verzweiflung, die der Sieg der israelischen Streitkräfte damals in ihm auslösten. Sand verließ bald darauf sein Heimatland und studierte in Paris. Inzwischen ist er zurückgekehrt und festangestellter Professor für Geschichte an der Universität in Tel Aviv.
Sand weist nun nach, dass die Behauptung, Juden seien ein Volk und direkte Nachfahren alter Judäer aus den Tagen der Bibel, wissenschaftlich unhaltbar ist. Er entlarvt den zionistischen Gründungsmythos als politisch motivierte Erfindung des 19. Jahrhunderts und attackiert ihn vehement. Er verweist darauf, dass ein Jude in Kiew und ein Jude in Casablanca vor 500 Jahren keine Alltagskultur teilten. Sie hätten weder Sprache, Musik, Kleidung oder Speisen gemeinsam gehabt. Verbunden seien sie höchstens durch die Praxis religiöser Vorschriften und Praktiken gewesen.
Dementsprechend schlägt Sand vor, Judentum als Religion zu definieren - und eben nicht ausschließlich ethnisch.
Die Stoßrichtung seiner Untersuchung, die den Auszug aus Ägypten ebenso als Legende beschreibt wie das jüdische Exil nach Zerstörung des Tempels, weist eindeutig in Gegenwart und Zukunft seines Heimatlandes. Das Selbstverständnis Israels als jüdischer Staat ist für Sand unvereinbar mit seiner Existenz als Demokratie im Nahen Osten. Der Mythos, heimzukehren "ins Land der Väter" sei einst wichtig gewesen, um den Staat aufzubauen. Doch die Thora dürfe nicht weiterhin als Geschichtsbuch verstanden werden, als Rechtfertigung auf palästinensischen Boden zu siedeln.
Der Autor plädiert für ein demokratisches Israel, in dem Palästinenser und Angehörige anderer Nationalitäten die gleichen Rechte besitzen - was nur möglich sei, wenn man von der ethnischen Definition des Jüdischen absähe. Der Abzug aus den besetzten Gebieten ist für den Historiker selbstverständlich, er unterstreicht aber ausdrücklich das Existenzrecht Israels als Staat. Russische, nichtjüdische Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion müssten darin die gleichen Rechte haben wie seine arabischen Studenten oder er selbst.
Die historischen Erkenntnisse in Sands Buch sind für Israelis nicht neu, in ihrer Bündelung aber eine Herausforderung. Fordert der Autor seine Landsleute doch auf, Konsequenzen aus der zunehmend auswegslosen, politischen Situation im Land zu ziehen und den geschichtsmächtigen Mythos des Zionismus zu verabschieden. Sand beschwört die Israelis, ihre Identität im 21. Jahrhundert neu zu definieren - um eine drohende Katastrophe zu vermeiden.
Zum Autor:
Geboren 1946 in Linz. Mit seinen Eltern, polnischen Holocaust-Überlebenden, 1948 nach Israel ausgewandert. Soldat im Sechs-Tage-Krieg 1967. Studium der Sozialwissenschaften in Paris. Sand lehrt Geschichte an der Universität Tel Aviv.
Besprochen von Carsten Hueck
Shlomo Sand: Die Erfindung des jüdischen Volkes. Israels Gründungsmythos auf dem Prüfstand
Aus dem Hebräischen von Alice Meroz
Propyläen Verlag, Berlin 2010
505 Seiten, 24,95 Euro