Angriff auf die Eliten in Frankreich

Was der Pädophilie-Skandal mit den Gelbwesten zu tun hat

09:13 Minuten
Zwei Männer, einer in einer gelben Warnweste, stehen im gelblichen Rauch von gezündeter Pyrotechnik.
Vanessa Springoras Buch über erlittenen Missbrauch als Minderjährige ist ein enormer Erfolg in Frankreich: Ohne die Gelbwestenproteste sei das nicht zu verstehen, sagt Schrifstellerin Gila Lustiger. © Getty Images / Jeff J. Mitchell
Gila Lustiger im Gespräch mit Frank Meyer |
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Das Buch einer Verlegerin hat Frankreich in Aufruhr versetzt. Sie machte öffentlich, wie sie als 14-Jährige von einem etablierten Schriftsteller missbraucht wurde. Dabei gebe es einen Zusammenhang mit den jüngsten Protesten, sagt Autorin Gila Lustiger.
In Frankreich wird seit Tagen über sexuelle Gewalt gegen Minderjährige diskutiert. Anfang Januar ist dort ein Buch der Verlegerin Vanessa Springora mit dem Titel "Le Consentement", also: "Die Einwilligung" erschienen. Springora schildert in dem Buch, wie sie als 14-jähriges Mädchen von dem 50-jährigen Schriftsteller Gabriel Matzneff zu seiner Liebhaberin gemacht wurde – mit ihrer Einwilligung.
Matzneff hat auch andere Mädchen und Jungen sexuell ausgebeutet. Er hat öffentlich darüber gesprochen und in seinen Tagebüchern darüber geschrieben. Seit 1990 erschienen sie beim französischen Spitzen-Verlag Gallimard. Jetzt, 30 Jahre später, nach Springoras Buch, hat Gallimard die Veröffentlichung der Tagebücher von Matzneff eingestellt.

"Sie können das nur im Kontext verstehen"

"Die Tagebücher kreisen um sexuelle Beziehungen mit Minderjährigen beiderlei Geschlechts", sagt die Schriftstellerin Gila Lustiger. Sie lebt seit Langem in Paris und hat dort auch in einem renommierten Verlag gearbeitet. Über die Tagebücher sagt sie, diese sexuellen Beziehungen seien "das Thema und das Zentrum". Matzneff beschreibe dort auch Sextourismus nach Thailand. Er habe den Renaudot-Preis, einen der angesehensten Preise in Frankreich, erhalten. Schon 1974 habe er den Essay "Les moins de seize ans" (auf Deutsch etwa: "Die Unter-16-Jährigen") veröffentlicht, in dem er seinen sexuellen Appetit auf Minderjährige programmatisch bekundet. "Dieser Essay wurde gefeiert", erklärt Lustiger.
"Sie können das nur im Kontext verstehen", sagt sie. Den Kontext bildeten die letzten Ausläufer der sexuellen Revolution 1968. "Die Intellektuellen in Paris sind linkslibertär, sie propagieren die Befreiung der sexuellen Bedürfnisse, die Liberalisierung der Gesetze", sagt Lustiger über die Zeit damals. Matzneff habe beispielsweise 1977 in einem Aufruf in der Zeitung "Le Monde" die Aufhebung des Verbots der Pädophilie gefordert. "Diese Petition unterschrieben alle großen Intellektuellen der Zeit." Darunter seien Louis Aragon, Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre gewesen.

"Keine Erzählung über Sexualität, sondern über Macht"

In gewisser Weise hätten die Männer von damals, die teilweise noch immer maßgebliche Positionen besetzen, mit ihrer Haltung zur Pädophilie bis heute den Diskurs bestimmt. Man könne den Skandal, den Springoras Buch entfacht hat, nur in einem politischen Kontext verstehen, erklärt Lustiger. Zum einen vor dem Hintergrund des aktuellen Generalstreiks, bei dem seit Wochen Tausende gegen die Rentenpläne der Regierung auf die Straße gehen. Und zum anderen vor dem Hintergrund der Gelbwestenbewegung, bei der ein Jahr lang Menschen aus der Provinz jeden Samstag nach Paris gekommen seien, weil sie sich "missachtet" gefühlt hätten.
"Sie haben gerade in Frankreich verstärkt das Gefühl, dass die Eliten arrogant sind und dass die Provinz und die Geächteten nicht gehört werden." Durch die Gelbwesten-Proteste hätten sich diejenigen, die nie gehört wurden und nie das Sagen hatten, seit langer Zeit wieder eine Stimme verschafft. Das potenziere den Erfolg dieses Buchs.
Denn auch in diesem Buch spiele das Verhältnis zur Elite eine Rolle. Springora sei damals eine 13-Jährige gewesen, Matzneff gehörte der intellektuellen Elite an. Das junge Mädchen sei fasziniert gewesen von diesem Lebensstil, wollte dazu gehören. "Eigentlich ist 'Le Consentement' keine Erzählung über Sexualität, sondern über Macht." Es gehe um Macht und um diejenige, die "keine Macht hat, ausgenutzt wird und sich jetzt das Wort verschafft".
(abr)
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