Angriff auf die Genozidforscher
Der Historiker Christian Gerlach versucht, mit dem Begriff der extrem gewalttätigen Gesellschaften einen neuen Forschungsansatz zu etablieren: Verschiedene Bevölkerungsgruppen werden Opfer massiver Gewalt, an der sich andere soziale Gruppen aus einer Vielzahl von Gründen beteiligen.
Christian Gerlach ist ein ungewöhnlicher Historiker. Schon als Doktorand erregte er internationales Aufsehen mit der These, Adolf Hitler habe am 12. Dezember 1941 seinen Entschluss, nunmehr alle europäischen Juden zu ermorden, auf einer Konferenz seinen engsten Mitarbeitern bekannt gegeben. 1999 erschien Gerlachs Dissertation "Kalkulierte Morde", ein Buch, das, wenn der Verlag einen konventionellen Satzspiegel gewählt hätte, einen Umfang von weit über 3.000 Seiten gehabt hätte. Der Autor analysiert darin die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrussland zwischen 1941 und 1944. Die Untersuchung des Zusammenhangs von Krieg, Ernährung und Völkermord war auch das Thema weiterer Publikationen.
Für eine eminente Begabung wie Christian Gerlach war kein Platz im deutschen akademischen Betrieb. Er ging zunächst an die Nationaluniversität von Singapur, lehrte danach im amerikanischen Pittsburgh und hat nun einen Lehrstuhl für Zeitgeschichte in globaler Perspektive an der Universität Bern. Und eine globale Perspektive hat auch sein neues Buch über Massengewalt im 20. Jahrhundert, das zunächst auf Englisch erschien und nun, von Kurt Baudisch vorzüglich übersetzt, auch auf Deutsch vorliegt. Christian Gerlach versucht hier, mit dem Begriff der extrem gewalttätigen Gesellschaften einen neuen Forschungsansatz zu etablieren:
"Dieses Buch stellt einen neuen Ansatz für die Erklärung von Massengewalt vor. Es versucht zu ergründen, was in Gesellschaften vor, während und nach Perioden großen Blutvergießens geschieht, und unternimmt den Versuch, die sozialen Wurzeln der Menschenvernichtung zu finden.
Massengewalt bedeutet die weit verbreitete Anwendung physischer Gewalt gegen Nichtkombattanten, d.h. Gewalt außerhalb der unmittelbaren Kampfhandlungen zwischen Militär und Paramilitärs. Massengewalt schließt Morde ein, aber auch Zwangsaussiedlungen oder Vertreibungen, organisierten Hunger oder mutwillig verursachte Unterversorgung, Zwangsarbeit, Massenvergewaltigungen, Flächenbombardierungen und exzessive Internierungen."
Extrem gewalttätige Gesellschaften sind Gesellschaften, die sich in einer schweren Krise befinden. Verschiedene Bevölkerungsgruppen werden Opfer massiver Gewalt, an der sich andere soziale Gruppen aus einer Vielzahl von Gründen beteiligen. Die Trennlinien zwischen ihnen können ethnisch, religiös, soziale oder politisch sein. Die gleichen Gruppen können in bestimmten Situationen Täter, in anderen Opfer sein. Staatliche Organe sind in der Regel entscheidend an der Ausübung extremer Gewalt beteiligt, aber die Massenbeteiligung an den Gewalttaten ist ein Schlüsselmerkmal extrem gewalttätiger Gesellschaften:
"Die Ziele nichtstaatlicher Akteure haben oft einen erheblichen Einfluss auf die Festlegung von Opfergruppen, die Wahl des Zeitpunkts und die Formen des Angriffs."
Gerlach betont:
"Wenn breite Schichten der Bevölkerung an der Gewalt teilnehmen und nichtstaatliche und staatliche Akteure dabei zusammenarbeiten, dann muss dies weder die Schuld von Staatsbediensteten oder Politikern noch von Privatbürgern verringern. Mein Ansatz dient dazu, jeden Typ von Akteur, von der Spitze bis zur unteren Ebene, sowohl innerhalb als auch außerhalb eines offiziellen Apparats, zu berücksichtigen."
Die Verantwortung für das Geschehene soll sich nicht ins Nichts auflösen, sondern die konkrete Analyse soll es im Gegenteil möglich machen, alle Täter und ihren Schuldanteil zu identifizieren.
Zunächst widmet sich Gerlach Indonesien, wo 1965/66 innerhalb kurzer Zeit mehr als 500.000 Kommunisten oder Menschen, die man dafür hielt, ermordet wurden. Es folgt eine Darstellung der 1915 beginnenden Ermordung der Armenier. Gerlach zeigt, dass das Massensterben der Armenier eine Folge der offiziellen Politik war, dass aber viele Gruppen aus der Mitte der Gesellschaft sich an den Gewaltaktionen beteiligten. Staatlich organisierte Enteignung und Raub und Erpressung durch die Bevölkerung gingen Hand in Hand. Aber seine Analyse zielt noch auf etwas Weiteres:
"Osmanische Armenier wurden nicht nur zu Opfern eines mörderischen Staates und von Einzelpersonen, sondern auch eines bestimmten Gesellschaftssystems. Innerhalb dieses Systems vollzogen sich dramatische Prozesse gesellschaftlichen Aufstiegs und von Massenverarmung, begleitet von Versuchen, die staatliche Kontrolle über bestimmte Wirtschaftssektoren und die Herrschaft auf dem Lande zu intensivieren."
Das Ausbrechen von massenhafter Gewalt ist in der Regel kein irrationaler Vorgang, kein Naturereignis. Es gibt Planer, Initiatoren, Betreiber, aber auch Profiteure, ausländische Mächte, die bewusst nicht intervenieren oder den Konflikt sogar schüren, aber auch gesellschaftliche Gruppen, die von den durch die Massengewalt herbeigeführten Veränderungen profitieren. Am Beispiel Griechenlands im Zweiten Weltkrieg analysiert Gerlach den Zusammenhang zwischen der Ausbeutung durch die Besatzer, Hungersnöten und Vernichtungsaktionen. Und Bangladesh, einst der östliche Teil Pakistans, ist ein Beispiel dafür, wie eine ganze Gesellschaft in eine mörderische Krise geraten kann.
Zentral ist nach Christian Gerlach für die extreme Gewalttätigkeit das, was Karl Marx einst die ursprüngliche Akkumulation genannt hat:
"In den vergangenen 500 Jahren wurde Gewalt, ganz gleich ob im eigenen Land oder mit imperialistischer Zielsetzung, in nichtindustrialisierten Ländern oder Regionen in einem Umfang und mit einer Intensität angewendet, die alle anderen Gräueltaten in den Schatten stellte. Dies geschah im Verlauf der kapitalistischen Durchdringung dieser Länder oder Regionen, die sie in produktivere, Überschüsse erwirtschaftende Gebiete umwandelte."
Gerlach betont abschließend, dass auch die sozialistische Kapitalakkumulation durch ein massives Vorkommen von Massengewalt und Elend gekennzeichnet ist. Die eklatantesten Beispiele dafür – den Holodomor, bei dem Stalin in der Ukraine 1932/33 mehr als sieben Millionen Menschen verhungern ließ, oder Mao Tse-Tungs Großen Sprung, bei dem Ende der 50er Jahre zwischen 15 und 45 Millionen Chinesen verhungerten – diskutiert er allerdings nicht.
Gerlach führt mit seinem Theorem von den extrem gewalttätigen Gesellschaften einen Generalangriff gegen die Genozidforscher, gegen die er an vielen Stellen seines Buches polemisiert, und den von Raphael Lemkin am armenischen Beispiel entwickelten Genozid-Begriff, der auch Eingang in die UN-Charta gefunden hat. Das Material, das Gerlach gegen das Genozid-Paradigma zusammengetragen hat, zeugt von stupender Gelehrsamkeit und wird die Geschichtsforschung noch lange Zeit anregen und bereichern. Ob seine Thesen in allen Punkten überzeugen können, wird die weitere Diskussion dieses bedeutenden Buches zeigen.
Christian Gerlach, Extrem gewalttätige Gesellschaften. Massengewalt im 20. Jahrhundert
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2011
576 Seiten, 39,99 Euro
Für eine eminente Begabung wie Christian Gerlach war kein Platz im deutschen akademischen Betrieb. Er ging zunächst an die Nationaluniversität von Singapur, lehrte danach im amerikanischen Pittsburgh und hat nun einen Lehrstuhl für Zeitgeschichte in globaler Perspektive an der Universität Bern. Und eine globale Perspektive hat auch sein neues Buch über Massengewalt im 20. Jahrhundert, das zunächst auf Englisch erschien und nun, von Kurt Baudisch vorzüglich übersetzt, auch auf Deutsch vorliegt. Christian Gerlach versucht hier, mit dem Begriff der extrem gewalttätigen Gesellschaften einen neuen Forschungsansatz zu etablieren:
"Dieses Buch stellt einen neuen Ansatz für die Erklärung von Massengewalt vor. Es versucht zu ergründen, was in Gesellschaften vor, während und nach Perioden großen Blutvergießens geschieht, und unternimmt den Versuch, die sozialen Wurzeln der Menschenvernichtung zu finden.
Massengewalt bedeutet die weit verbreitete Anwendung physischer Gewalt gegen Nichtkombattanten, d.h. Gewalt außerhalb der unmittelbaren Kampfhandlungen zwischen Militär und Paramilitärs. Massengewalt schließt Morde ein, aber auch Zwangsaussiedlungen oder Vertreibungen, organisierten Hunger oder mutwillig verursachte Unterversorgung, Zwangsarbeit, Massenvergewaltigungen, Flächenbombardierungen und exzessive Internierungen."
Extrem gewalttätige Gesellschaften sind Gesellschaften, die sich in einer schweren Krise befinden. Verschiedene Bevölkerungsgruppen werden Opfer massiver Gewalt, an der sich andere soziale Gruppen aus einer Vielzahl von Gründen beteiligen. Die Trennlinien zwischen ihnen können ethnisch, religiös, soziale oder politisch sein. Die gleichen Gruppen können in bestimmten Situationen Täter, in anderen Opfer sein. Staatliche Organe sind in der Regel entscheidend an der Ausübung extremer Gewalt beteiligt, aber die Massenbeteiligung an den Gewalttaten ist ein Schlüsselmerkmal extrem gewalttätiger Gesellschaften:
"Die Ziele nichtstaatlicher Akteure haben oft einen erheblichen Einfluss auf die Festlegung von Opfergruppen, die Wahl des Zeitpunkts und die Formen des Angriffs."
Gerlach betont:
"Wenn breite Schichten der Bevölkerung an der Gewalt teilnehmen und nichtstaatliche und staatliche Akteure dabei zusammenarbeiten, dann muss dies weder die Schuld von Staatsbediensteten oder Politikern noch von Privatbürgern verringern. Mein Ansatz dient dazu, jeden Typ von Akteur, von der Spitze bis zur unteren Ebene, sowohl innerhalb als auch außerhalb eines offiziellen Apparats, zu berücksichtigen."
Die Verantwortung für das Geschehene soll sich nicht ins Nichts auflösen, sondern die konkrete Analyse soll es im Gegenteil möglich machen, alle Täter und ihren Schuldanteil zu identifizieren.
Zunächst widmet sich Gerlach Indonesien, wo 1965/66 innerhalb kurzer Zeit mehr als 500.000 Kommunisten oder Menschen, die man dafür hielt, ermordet wurden. Es folgt eine Darstellung der 1915 beginnenden Ermordung der Armenier. Gerlach zeigt, dass das Massensterben der Armenier eine Folge der offiziellen Politik war, dass aber viele Gruppen aus der Mitte der Gesellschaft sich an den Gewaltaktionen beteiligten. Staatlich organisierte Enteignung und Raub und Erpressung durch die Bevölkerung gingen Hand in Hand. Aber seine Analyse zielt noch auf etwas Weiteres:
"Osmanische Armenier wurden nicht nur zu Opfern eines mörderischen Staates und von Einzelpersonen, sondern auch eines bestimmten Gesellschaftssystems. Innerhalb dieses Systems vollzogen sich dramatische Prozesse gesellschaftlichen Aufstiegs und von Massenverarmung, begleitet von Versuchen, die staatliche Kontrolle über bestimmte Wirtschaftssektoren und die Herrschaft auf dem Lande zu intensivieren."
Das Ausbrechen von massenhafter Gewalt ist in der Regel kein irrationaler Vorgang, kein Naturereignis. Es gibt Planer, Initiatoren, Betreiber, aber auch Profiteure, ausländische Mächte, die bewusst nicht intervenieren oder den Konflikt sogar schüren, aber auch gesellschaftliche Gruppen, die von den durch die Massengewalt herbeigeführten Veränderungen profitieren. Am Beispiel Griechenlands im Zweiten Weltkrieg analysiert Gerlach den Zusammenhang zwischen der Ausbeutung durch die Besatzer, Hungersnöten und Vernichtungsaktionen. Und Bangladesh, einst der östliche Teil Pakistans, ist ein Beispiel dafür, wie eine ganze Gesellschaft in eine mörderische Krise geraten kann.
Zentral ist nach Christian Gerlach für die extreme Gewalttätigkeit das, was Karl Marx einst die ursprüngliche Akkumulation genannt hat:
"In den vergangenen 500 Jahren wurde Gewalt, ganz gleich ob im eigenen Land oder mit imperialistischer Zielsetzung, in nichtindustrialisierten Ländern oder Regionen in einem Umfang und mit einer Intensität angewendet, die alle anderen Gräueltaten in den Schatten stellte. Dies geschah im Verlauf der kapitalistischen Durchdringung dieser Länder oder Regionen, die sie in produktivere, Überschüsse erwirtschaftende Gebiete umwandelte."
Gerlach betont abschließend, dass auch die sozialistische Kapitalakkumulation durch ein massives Vorkommen von Massengewalt und Elend gekennzeichnet ist. Die eklatantesten Beispiele dafür – den Holodomor, bei dem Stalin in der Ukraine 1932/33 mehr als sieben Millionen Menschen verhungern ließ, oder Mao Tse-Tungs Großen Sprung, bei dem Ende der 50er Jahre zwischen 15 und 45 Millionen Chinesen verhungerten – diskutiert er allerdings nicht.
Gerlach führt mit seinem Theorem von den extrem gewalttätigen Gesellschaften einen Generalangriff gegen die Genozidforscher, gegen die er an vielen Stellen seines Buches polemisiert, und den von Raphael Lemkin am armenischen Beispiel entwickelten Genozid-Begriff, der auch Eingang in die UN-Charta gefunden hat. Das Material, das Gerlach gegen das Genozid-Paradigma zusammengetragen hat, zeugt von stupender Gelehrsamkeit und wird die Geschichtsforschung noch lange Zeit anregen und bereichern. Ob seine Thesen in allen Punkten überzeugen können, wird die weitere Diskussion dieses bedeutenden Buches zeigen.
Christian Gerlach, Extrem gewalttätige Gesellschaften. Massengewalt im 20. Jahrhundert
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2011
576 Seiten, 39,99 Euro