Angstschweiß und Begehren
Eine hoch betagte Frau soll gemordet haben. Sie sitzt auf dem Revier, wartet aufs Verhör und spricht einen Monolog. Doch statt von ihren Taten erzählt sie von Odysseus und Circe, fällt mit ihrem Singsang in die Welt der Mythen. Der Kommissar fühlt sich betört.
Eigentlich geht es in Albert Ostermaiers Erzählung "Die Liebende" um ein verschlissenes (Erzähl-)Ritual. Auf einem Revier in Paris muss der Polizeikommissar Olivier eines jener quälenden Verhöre führen, wie sie aus TV-Serien hinlänglich bekannt sind. Eine hoch betagte Frau soll mehrfachen Mord begangen haben.
Doch etwas irritiert. Der Text beginnt, indem die Beschuldigte in einem langen Monolog selbst Anklage führt: "Was sitzt du da, als wärst du ein Stummer?" Dabei befindet sich der Angesprochene noch gar nicht im Raum, obwohl das Tonband für den Mitschnitt läuft. Ihr scheint es egal zu sein, denn sie spricht ihren Text wie auf einer Bühne, ganz in sich kreisend. Was sie sagt, klingt etwas pathetisch, aber bald schon fallen wichtige Stichworte: "Odysseus", "Sirenengesang", "Circe".
Wer Ostermaiers Prosatexte gelesen hat, das Debüt "Zephyr" (2008) und den Roman "Schwarze Sonne scheine" (2011), kennt diese verwegenen, radikalen Erzählansätze. Aber auch sein Interesse für mythische Themen, das vor allem von den unheilvollen Verknüpfungen zwischen Liebesbegehren und Tod bestimmt wird.
In "Die Liebende" nimmt Ostermaier nicht nur eine ähnlich extreme Erzähl-Perspektive ein.
So verwandelt sich bald schon die Verspiegelung im Verhörraum in einen Spiegel, in dem sich das sehnsuchtsvolle Verlangen des Kommissars als ein jahrtausendealtes, fremdes Begehren bricht. Immer wenn er vor dem Spiegel stand, so stellt er fest, "fühlte er den Zwang zur Lüge".
Die Sprache der Alten, die sich elegant zwischen Homers "Odyssee" und Ovids "Metamorphosen" bewegt und das Erzählen steuert, treibt dem jungen Kommissar kalten Angstschweiß auf die Stirn. Denn sie vermag seine unterdrückte Lust aufzustacheln.
Der Kommissar will das Verhör abbrechen. Seine Kehle ist wie zugeschnürt. Er weiß sich keiner Welt mehr zugehörig, scheint die Sinne zu verlieren. Schließlich mutiert die Angeklagte – die er inzwischen "Circe" nennt - zu einem zeitlosen Wesen, das immer mehr Macht über ihn gewinnt.
Ostermaiers Text changiert zwischen verschiedenen Orten, die von männlichen Erzähl-Autoritäten besetzt sind und zugleich Leerstellen in der abendländischen Tradition darstellen. Denn während sich die Zauberin Circe in Homers "Odyssee" in Odysseus verliebt und ihn bezirzt, auf der Insel Aiaia zu bleiben, wartet Penelope, Odysseus’ Frau, in Ithaka auf seine Rückkehr. Sie webt unentwegt an einem Totenhemd, um die Freier auf Distanz zu halten. Circe und Penelope schaffen so einen weiblichen Liebesdiskurs, der einen Gegenpol zur männlichen Sprache der Liebe bildet.
Albert Ostermaier ist ein erschütternd schönes, melancholisches Erzählen gelungen. Er spürt den Schatten nach, die an Ängste, Schuld und Verfehlung rühren. Sein emphatisches Sprechen erinnert an Ingeborg Bachmanns Erzählung "Undine geht" (1961). In beiden Textgeweben schwingt eine Hommage an die Kunst als große Liebende mit, die auf das weibliche Prinzip setzt: "Gehen wir, Circe hat es mir so geraten."
Besprochen von Carola Wiemers
Albert Ostermaier: Die Liebende
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012
82 Seiten, 14,95 Euro
Doch etwas irritiert. Der Text beginnt, indem die Beschuldigte in einem langen Monolog selbst Anklage führt: "Was sitzt du da, als wärst du ein Stummer?" Dabei befindet sich der Angesprochene noch gar nicht im Raum, obwohl das Tonband für den Mitschnitt läuft. Ihr scheint es egal zu sein, denn sie spricht ihren Text wie auf einer Bühne, ganz in sich kreisend. Was sie sagt, klingt etwas pathetisch, aber bald schon fallen wichtige Stichworte: "Odysseus", "Sirenengesang", "Circe".
Wer Ostermaiers Prosatexte gelesen hat, das Debüt "Zephyr" (2008) und den Roman "Schwarze Sonne scheine" (2011), kennt diese verwegenen, radikalen Erzählansätze. Aber auch sein Interesse für mythische Themen, das vor allem von den unheilvollen Verknüpfungen zwischen Liebesbegehren und Tod bestimmt wird.
In "Die Liebende" nimmt Ostermaier nicht nur eine ähnlich extreme Erzähl-Perspektive ein.
So verwandelt sich bald schon die Verspiegelung im Verhörraum in einen Spiegel, in dem sich das sehnsuchtsvolle Verlangen des Kommissars als ein jahrtausendealtes, fremdes Begehren bricht. Immer wenn er vor dem Spiegel stand, so stellt er fest, "fühlte er den Zwang zur Lüge".
Die Sprache der Alten, die sich elegant zwischen Homers "Odyssee" und Ovids "Metamorphosen" bewegt und das Erzählen steuert, treibt dem jungen Kommissar kalten Angstschweiß auf die Stirn. Denn sie vermag seine unterdrückte Lust aufzustacheln.
Der Kommissar will das Verhör abbrechen. Seine Kehle ist wie zugeschnürt. Er weiß sich keiner Welt mehr zugehörig, scheint die Sinne zu verlieren. Schließlich mutiert die Angeklagte – die er inzwischen "Circe" nennt - zu einem zeitlosen Wesen, das immer mehr Macht über ihn gewinnt.
Ostermaiers Text changiert zwischen verschiedenen Orten, die von männlichen Erzähl-Autoritäten besetzt sind und zugleich Leerstellen in der abendländischen Tradition darstellen. Denn während sich die Zauberin Circe in Homers "Odyssee" in Odysseus verliebt und ihn bezirzt, auf der Insel Aiaia zu bleiben, wartet Penelope, Odysseus’ Frau, in Ithaka auf seine Rückkehr. Sie webt unentwegt an einem Totenhemd, um die Freier auf Distanz zu halten. Circe und Penelope schaffen so einen weiblichen Liebesdiskurs, der einen Gegenpol zur männlichen Sprache der Liebe bildet.
Albert Ostermaier ist ein erschütternd schönes, melancholisches Erzählen gelungen. Er spürt den Schatten nach, die an Ängste, Schuld und Verfehlung rühren. Sein emphatisches Sprechen erinnert an Ingeborg Bachmanns Erzählung "Undine geht" (1961). In beiden Textgeweben schwingt eine Hommage an die Kunst als große Liebende mit, die auf das weibliche Prinzip setzt: "Gehen wir, Circe hat es mir so geraten."
Besprochen von Carola Wiemers
Albert Ostermaier: Die Liebende
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012
82 Seiten, 14,95 Euro