Anita Harag: „Es ist zu kühl für diese Jahreszeit“
© Schöffling
Nichts als Angst
06:46 Minuten
Anita Harag
Aus dem Ungarischen von Timea Tankó
Es ist zu kühl für diese JahreszeitSchöffling Verlag, Frankfurt 2022192 Seiten
22,00 Euro
Auf den ersten Blick erzählt Anita Harag aus dem höchst alltäglichen Leben junger Frauen, auf den zweiten macht sich hinter jedem Satz Angst bemerkbar. Angst, sich und andere zu verlieren. Ein Buch der stillen Tragik, voll leiser Schocker.
Angst ist wie Wasser, sie findet immer einen Weg. Die Ich-Erzählerinnen in Anita Harags Debüt „Es ist zu kühl für diese Jahreszeit“ sind daher mit all ihrer Wahrnehmungskraft nach außen orientiert, um die Angst einzudämmen, ihr zuvorzukommen und auszuweichen.
Die Angst regiert das Leben, das sich doch verzweifelt bemüht, eben diese Angst loszuwerden. Einmal nur wird sie erwähnt: Als der Freund der Erzählerin sie zu dazu drängen will, mit ihm durch die vier Grad kalte Donau zu schwimmen. „Er wisse, dass ich es gern machen würde, mich nur fürchte, aber das müsse ich nicht. Nur der erste Schritt ist schwer, danach wird es leichter.“
„Wir kommen allein zurecht“
Harags – mit einer Ausnahme – namenlose Erzählerinnen fürchten sich tatsächlich „nur“, das aber ausschließlich und so stark, dass dem Leser durchaus angst und bange werden kann. Meist droht ein Verlust: die Großmutter stirbt, der Vater verschwindet, die Mutter verändert sich nach der Brustamputation, und die eigene Brust ist ebenfalls gefährdet.
Manchmal ist der Verlust schon eingetreten, jedoch nicht begriffen – die Erzählerin hat sich vom Freund getrennt, erblickt ihn jedoch überall. Über all das wird möglichst nicht gesprochen. Die Traurigkeit der Mutter „fließt nach innen“, die Erzählerin hält es ganz ähnlich: „Wir kommen allein zurecht.“
Von dieser in sich verschlossenen Dramatik erzählt Harag gekonnt durch die harmlosen Kulissen des Alltags hindurch. Die Protagonisten gehen zum Schwimmbad, halten einander an der Hand, befreien das ruinöse Haus des verstorbenen Vaters „am Ende der Welt“ von Müll und Schutt. Unauffälliger geht es kaum. Und doch ist der engste Begleiter der Erzählerin die Angst.
Die Welt ohne Ich
Die Außenorientierung zum Schutz des Selbst ist so ausschließlich, dass für eben dieses Selbst keine Ressourcen übrigbleiben. Harags Erzählerinnen wissen nicht, warum sie ständig die Umgebung scannen und noch die unwichtigsten Details, nicht aber sich wahrnehmen.
In dem halb zerstörten Haus des toten Vaters liest die Tochter verschüttete Reiskörner auf, ohne zu wissen, warum. Als die verwitwete Mutter beginnt, nach dem Sportunterricht länger mit dem Judolehrer ihrer Kinder zu sprechen, reagiert die Erzählerin mit verlangsamten Reaktionen: Der Bruder könne sich schnell umziehen, sie leider nicht. „Die Welt besteht aus solchen Menschen, die sich schnell, und solchen, die sich langsam anziehen.“ Im Mittelpunkt steht die Welt, und das Ich geht im Ansturm des feindlichen Außen verloren.
Schillernde Bedrohung
Anita Harag, 1978 in Budapest geboren, ist für die stille Tragik ihres Debüts - von Timea Tankó mit Fingerspitzengefühl für das fortwährende Drama unter der Alltagsoberfläche übersetzt - mit dem angesehenen György-Petry-Preis ausgezeichnet worden. Auf welchem schmalen Grat die Autorin wandelt, zeigt die Erzählung „Der Hund pinkelt auf den Teppich“. Weil die französische Bulldogge eben das tut, malt sich die Erzählerin ihren Tod und die Beerdigung aus.
Solche Konkretion bekommt dem Schillern der Bedrohungsatmosphäre nicht, sie wird ebenso banal wie der beständig im Vordergrund stehende Alltag. Es ist die einzige schwache Geschichte in dem Band. Allerdings wünscht man sich nach der Lektüre, dass Harag nun mal andere Erzählregister zieht.