Anja Kampmann: "der hund ist immer hungrig"

Erosion, Klone und Supernovas

06:02 Minuten
Cover des Gedichtbands "der hund ist immer hungrig" von Anja Kampmann.
Ungeahnte Reize, spröde poetische Momente: der neue Gedichtband von Anja Kampmann. © Deutschlandradio / Hanser
Von Helmut Böttiger |
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Anja Kampmanns Lyrikband "der hund ist immer hungrig" ist durchzogen von apokalyptischen Visionen. Das ist verstörend, zugleich aber von vibrierender Schönheit. Kampmanns Gedichte sind wie Stachel, die stecken bleiben.
Diesem erstaunlichen Lyrikband steht eine Art Mottogedicht voran, das "es war das jahr" betitelt ist und im Jahr 1348 spielt. Da sitzt Papst Clemens VI. in seinem Palast in Avignon und überlebt "zwischen zwei Feuern" einen Ausbruch der Pest.
Es ist allerdings in jeder Zeile klar, dass es sich um ein Gegenwartsgedicht aus dem Jahr 2021 handelt, um ein aktuelles Lebensgefühl. Krise, Verdüsterung der Zukunft, Anfechtungen unterschiedlichster Art: Die Sprache, in der dies geschieht, lässt mehrere Lesarten zu, sie hat etwas unruhig Flackerndes und Suchendes, aber es setzt sich ein intensives Zeitbild zusammen.
Anja Kampmanns Gedichte sind illusionslos und nüchtern, und doch schwingt in ihnen noch etwas Anderes mit. In einem der gelegentlich aufblitzenden Kindheitsmomente ist von einer "nacht im anorak" die Rede und von einem "versprechen", das "in der kälte / klaffte".
Von dieser Art eines Versprechens, einer Erwartung, einer Sehnsucht ist immer wieder die Rede, es wird nie direkt benannt, aber immer wieder umkreist, "und keiner / konnte sagen oder ahnen was sich da / im dunkeln tief in meinem anorak verbarg". Was sich da verbirgt: Das ist die Antriebskraft dieser Gedichte.

Schärfung des Bewusstseins

Diese Zeilen evozieren etwas. Sie haben eine sperrige, atonale Rhythmik, die Sinneinheiten sind oft durch die ungewohnte Stellung des Verbs, durch vertrackte Satzbildungen aufgebrochen, in denen verschiedene Bezüge möglich sind.
Gerade dadurch wird vorgeführt, wie Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung entstehen - wie wir uns zum Beispiel an bestimmte Erfahrungen erinnern, an Szenen aus der Vergangenheit.
Die Kindheit, die Spiele in der Pubertät, die Entdeckung von etwas Neuem – das hat nie etwas Verklärtes oder Romantisches. Solche Fragmente schärfen vor allem das Bewusstsein für die Gegenwart: "und wie geht der gesang / wenn keiner ihn mehr braucht."
Der Titel "der hund ist immer hungrig" lebt nicht nur von der Alliteration Hund/hungrig, durch die die Aussage bekräftigt wird, er hat auch einen mehrfach gespiegelten Sinngehalt.
Im Titelgedicht befindet sich der Hund in einer von der Fracking-Industrie denaturalisierten Landschaft in Kanada. Auf dem Cover des Bandes aber ist ein Fresko aus dem Papstpalast in Avignon abgebildet, das einen Hund in einer Jagdszene aus der Zeit des im ersten Gedicht aufgerufenen Clemens VI. zeigt. Der Hund verweist auf eine existenzielle Dimension.

Gewohnte Lebenszusammenhänge verschwinden

In der Gegenwart vieler dieser Texte ist die Zukunft schon enthalten. Geklonte Tiere und Menschen, Supernovas, riesige Erosionsflächen im deindustrialisierten Osteuropa – solch apokalyptisch anmutenden Visionen gewinnt die Lyrikerin bei aller genauen Beobachtung ungeahnte Reize ab, spröde poetische Momente.
In Anja Kampmanns Gedichten gibt es ein unterschwelliges Bewusstsein dafür, dass die Welt in der Form, in die wir hineingewachsen sind, fragwürdig geworden ist. Die Zerstörung der Natur, das Verschwinden der gewohnten Lebenszusammenhänge wird bereits als gegeben vorausgesetzt.
Das hat etwas Verstörendes, und zugleich ist es von einer merkwürdig vibrierenden sprachlichen Schönheit. Diese Gedichte spielen nicht, sie täuschen nichts vor.
Sie sind ein Stachel, der bleibt.

Anja Kampmann: "der hund ist immer hungrig", Gedichte
Hanser Verlag, München 2021
118 Seiten, 20 Euro

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