Anklage gegen Orhan Pamuk

Juristische Jagd auf einen Literaturnobelpreisträger

08:07 Minuten
Der türkische Schriftsteller Orhan Pamuk vor einem Gebäude in einem Stadtviertel von Istanbul.
Erneut hat ein Anwalt Anzeige gegen Orhan Pamuk erstattet. Er nimmt Anstoß an Pamuks neuem Roman "Die Nächte der Pest". © picture alliance / AA / Ahmet Bolat
Susanne Güsten im Gespräch mit Sigrid Brinkmann |
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Der türkische Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk soll in der Türkei erneut vor Gericht gebracht werden. Stein des Anstoßes: sein neuer Roman "Die Nächte der Pest". Der Schriftsteller verhöhne darin den Staatsgründer Atatürk, lautet der Vorwurf.
Türkische Kulturschaffende wie der Autor und Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk, die sich kritisch mit der Geschichte ihres Landes und mit ihrer Regierung auseinandersetzen, leben in ihrem Heimatland unter Umständen sehr gefährlich. Und werden zur Zielscheibe für Nationalisten.
2005 hatte der Autor sich deutlich zur Ermordung der Armenier durch das türkische Regime am Ende des Ersten Weltkriegs geäußert und von türkischen Massakern gesprochen – was ihm eine Anzeige wegen Beleidigung des Türkentums einbrachte und ihn beinahe vor ein Gericht brachte. Vermutlich war es der heftige internationale Protest, der ihn damals vor einem Strafverfahren bewahrte.

Stein des Anstoßes ist sein neuer Roman

Jetzt droht Pamuk tatsächlich ein Prozess, und erneut ist es ein konservativer Anwalt, der ihn angezeigt hat, wenn auch ein anderer als 2005.
Stein des Anstoßes ist diesmal Pamuks neuer Roman "Die Nächte der Pest", der voraussichtlich im Februar 2022 auf Deutsch erscheint: Er handelt von einer Pandemie auf einer fiktiven Mittelmeerinsel im frühen 20. Jahrhundert und thematisiert den Nationalismus von Türken und Griechen.
Unter anderem geht es um einen Offizier namens Kamil. Dieser erinnert mit seinem Namen und seinen Taten an Mustafa Kemal, wie Atatürk, der kulthaft verehrte Staatsgründer der Türkei, ursprünglich hieß. Der Autor verhöhne in dem Roman Atatürk und greife damit die Werte des türkischen Volkes an, hieß es in der Anzeige des Anwalts Tarcan Ülük, wie die Journalistin und Türkei-Korrespondentin Susanne Güsten bestätigt.
Der Anwalt habe sich ihr gegenüber "ehrlich empört" gezeigt, berichtet Güsten. Ülük sei politisch offenbar rechtskonservativ, aber er sei kein Vertreter der Regierungspartei AKP.
Für Güsten steht der Anwalt damit stellvertretend für eine Entwicklung der zurückliegenden Jahren: "Es ist in der Türkei jetzt leider so, dass nicht nur die Regierung antidemokratisch ist und Andersdenkende verfolgt und die Justiz als Hebel benutzt, um Dissens zu ersticken. Sondern dieses Land ist so polarisiert, jeder will dem anderen eins reinwürgen, und keiner scheut sich, die Justiz dafür heranzuziehen."

Auch eine regierungsfreundliche Journalistin protestiert

Nachdem Pamuk im Frühjahr dieses Jahres gegenüber der Staatsanwaltschaft noch glaubhaft habe belegen können, dass er mitnichten Atatürk in seinem Roman verhöhne, habe nun ein Gerichtder Anzeige des Anwalts stattgegeben.
Güsten berichtet weiter, dass auch eine eigentlich regierungsfreundliche Medienvertreterin das anstehende Verfahren heftig kritisiere. Die prominente Kolumnistin beispielsweise fragte in ihrem Kommentar, ob man den Nobelpreisträger Pamuk etwa gleich zu dem inhaftierten regierungskritischen Mäzen und Unternehmer Osman Kavala in die Zelle sperren wolle.

Keine unabhängige Justiz mehr

Es sei nun abzuwarten, wann der Prozess gegen Pamuk tatsächlich beginne. "Es ist in der Türkei inzwischen so, dass die Justiz überhaupt nicht mehr unabhängig ist, sondern durchweg abhängig von der Regierung. Wenn sie einen politischen Wink bekommt, so oder so, dann folgt sie dem", sagt die Journalistin. Es komme nun also ganz auf die Weisung aus Ankara an.
Und ähnlich wie 2005 könnte ein Prozess gegen den Autor nicht nur Protestbekundungen mobilisieren, sondern auch Nationalisten auf den Plan rufen. Orhan Pamuk hat sich zu seinem Schutz schon vor Jahren Bodyguards zugelegt. Denn wie bitter nötig Personenschutz für kritische Intellektuelle in der Türkei sein kann, zeigt das Beispiel des türkisch-armenischen Journalisten Hrant Dink, der 2007 von einem nationalistischen Attentäter erschossen wurde.
"Wenn es zum Prozess kommt und wenn diese Sache wirklich groß wird", werde Pamuk wahrscheinlich mehr Personenschützer brauchen, befürchtet Güsten.

Orhan Pamuk: "Die Nächte der Pest"
aus dem Türkischen von Gerhard Meier
Carl Hanser Verlag, erscheint im Februar 2022
800 Seiten, 32 Euro

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