Édouard Louis: „Anleitung ein anderer zu werden“
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Eddy will nach oben
06:01 Minuten
Édouard Louis
Aus dem Französischen von Sonja Finck
Anleitung, ein anderer zu werdenAufbau, Berlin 2022272 Seiten
24,00 Euro
Édouard Louis blickt in seinem neuen Roman noch einmal auf seinen schwierigen Weg aus kleinsten Verhältnissen in der französischen Provinz zum erfolgreichen Literaten in Paris. Leider bleibt er dabei allzu brav und konventionell.
Ein anderer werden - das heißt hier, sich aus den Fesseln der Herkunft zu befreien, aufzusteigen, Klassenschranken zu überwinden. In seinem spektakulären Debüt „Das Ende von Eddy“ hatte Édouard Louis 2014 das Elend einer Jugend auf dem Land skandalisiert, geprägt von ökonomischer Not und reaktionären Haltungen: Ausländerfeindlichkeit, Homophobie, Machotum.
Vom schwulen Außenseiter zum Eliteschüler
In seinem neuen Roman beschreibt der von Pierre Bourdieus soziologischer Klassenanalyse („Die feinen Unterschiede“) geprägte Autor, der demnächst 30 Jahre alt wird, seine wundersame Verwandlung vom gedemütigten schwulen Außenseiter zum Schüler an Frankreichs elitärster geisteswissenschaftlicher Bildungsanstalt, der „École normale supérieure“ in Paris.
Schon der kuriose Name „Eddy“ stigmatisiert den Jungen als Angehörigen der Unterschicht, zumal sein Nachname „Bellegueule“ so viel wie „schöne Visage“ bedeutet. Als er es - sensationell für sein Umfeld - aus dem Dorf in die Stadt Amiens aufs Gymnasium schafft, wird er von den Eltern einer Klassenkameradin aufgenommen. In dem gutbürgerlichen Ambiente sind nicht nur ein Bücherregal und Gespräche über Malerei selbstverständlich. Hier lernt er auch den gepflegten Umgang mit Messer und Gabel - und dass er sich besser „Édouard“ nennen sollte. In Amiens begegnet er auch dem Soziologen Didier Eribon, der ihm den weiteren akademischen Weg weist.
Bekenntnishafte Autobiografie
Das Buch liest sich vordergründig als bekenntnishafte Autobiografie, in der die Entdeckung der Homosexualität eine große Rolle spielt. In einschlägigen Bars im Pariser Stadtviertel Marais reißt er Männer auf, die aus der gebildeten Mittelschicht stammen oder gar Zugang zum (Geld-)Adel haben. Der Erzähler stellt sich immer wieder die Frage, ob er diese Leute ausnutzt - oder ob er sich nicht vielmehr prostituiert. Das Ausleben seiner Homosexualität ist für ihn auch ein Mittel, um aus der Prekarität herauszutreten.
Immer wieder richtet sich der Text direkt an den Vater, den er in „Das Ende von Eddy“ und auch in dem berührenden Buch über seine Mutter („Die Freiheit einer Frau“) als üblen Säufer beschreibt, in „Wer hat meinen Vater umgebracht“ jedoch als hilfloses Opfer der französischen Sozialpolitik dargestellt hat. Der Sohn entschuldigt sich beim Vater, weil er seinen eigenen Aufstieg als Verrat an seiner Herkunft betrachtet.
„Anleitung ein anderer zu werden“ könnte man als versöhnliches Buch bezeichnen. Man findet darin an keiner Stelle den aggressiven, die Gesellschaft - und manche französischen Politiker auch persönlich - anklagenden Revoluzzer-Gestus aus früheren Werken des literarischen Jung-Stars. Das ist schade. Denn auch wenn man Louis’ Hau-drauf-Rhetorik oft anstrengend fand: Sein Stil war immer pointiert, direkt, mitreißend.
Das neue Buch hingegen ist erstaunlich brav und konventionell. Die fragmentarische Art der Präsentation soll innere Zerrissenheit andeuten. Vieles wirkt jedoch inszeniert und allzu „romanesk“, etwa wenn der Junge beim Erhalt des Briefs, der die Aufnahme auf die Elitehochschule bestätigt, in Tränen ausbricht.
Fast schon kitschig
Das dürfte jedem Bewerber so gehen. Hier jedoch wird es als Signal für „Ich muss nicht zurück ins Dorf“ fast schon kitschig. Stellenweise glaubt man, einen Roman aus dem 19. Jahrhundert zu lesen - das Motiv des Aufsteigers aus der Provinz nach Paris ist ja spätestens seit Stendhal ein Standard in der französischen Literatur.
Vielleicht ist die Sache mit den Qualen der Herkunft bei Édouard Louis mittlerweile auch ganz einfach auserzählt. Nach „Anleitung ein anderer zu werden“ warten wir auf einen kraftvollen, „anderen“ Roman des Schriftstellers.