Anna Burns: "Milchmann"
Aus dem Englischen von Anna-Nina Kroll
Tropen Verlag, Stuttgart 2020
452 Seiten, 25 Euro
Eine Frau, die sich nicht anpasst
05:23 Minuten
Für "Milchmann" wurde Anna Burns mit dem Booker Prize ausgezeichnet. Zurecht: Mit irrwitziger Komik erzählt der Roman von einem jungen Mädchen, das in einer repressiven Gesellschaft aufwächst und sich gegen deren Sexismus zu wehren weiß.
Was für eine fabelhafte Übersetzung! Anna-Nina Kroll hat der 18-jährigen Erzählerin des Romans "Milchmann" auch im Deutschen genau die ambivalente Mischung aus Schnoddrigkeit und Unschuld verpasst, mit der die nordirische Autorin Anna Burns sie erdacht haben muss. Von diesem eigensinnigen Charakter lebt das ganze Buch, und er zeigt sich in der Sprache: "Der Tag an dem Irgendwer McIrgendwas mir eine Waffe auf die Brust setzte, mich ein Flittchen nannte und drohte, mich zu erschießen, war auch der Tag, an dem der Milchmann starb."
Nicht nur in diesem rasanten ersten Satz der Geschichte, die von dort aus im Rückblick entrollt werden wird, verweigert die Erzählerin es, Personen und Orten Namen zu geben. Der "Milchmann" ist der Anführer einer Rebellen-Gruppe, der sie bedrängt und verfolgt. Der Junge, in den sie verliebt ist, heißt "Vielleicht-Freund", Schwager und Schwestern werden durchnummeriert und die ersten hart bekämpften Feministinnen des Ortes sind die "Themen-Frauen".
Eine leidenschaftliche Leserin
Diese Code-Sprache entwickelt eine irrwitzige Komik. Zumal Burns sie einerseits mit einem hohen Erzähltempo kombiniert, das zum flapsigen Ton eines in ständigem Widerstand lebendem pubertierenden Mädchens passt, das andererseits dadurch verletzlich wirkt, dass es extrem verzweigte Sätze bildet, als müsse es sich immer wieder der Dinge vergewissern und verstünde sie in ihrer wenig vernünftig wirkenden Erwachsenen-Logik noch nicht vollends.
Und dann dies: Die Erzählerin ist eine leidenschaftliche Leserin. Selbst im Gehen liest sie. Das macht sie ihren Nachbarinnen und dem Ort, in dem sie lebt, verdächtig. Wenn diese Leute wüssten, dass es auch noch ausschließlich Romane aus dem 18. und 19. Jahrhundert sind, die unsere Leserin im Gehen liest, weil sie das 20. Jahrhundert nun mal ganz grundsätzlich nicht leiden kann, dann würde sie ihrer Umgebung endgültig suspekt werden.
Dabei ist die Gesellschaft, in der die Erzählerin leben muss, das suspekte Subjekt in diesem Roman: Ein Ort, an dem Gewalt zwischen dem Staat und den Rebellen herrscht, und an dem es die Rebellen sind, die Gesetze schaffen, denen sich alle zu unterwerfen haben. Ein Ort, an dem insbesondere Frauen sich fügen müssen, während sie unter absurden, von den kämpfenden Männern diktierten Bedingungen den Alltag organisieren müssen. In dieser Umgebung wächst Anna Burns’ Erzählerin heran und wird Objekt der sexuellen Begierde eines Rebellenführers. Statt dass man sie schützt, wird sie in der Gerüchteküche zur Lolita, zur Täterin.
Lässig und klug
Man könnte denken, dieses Buch spielt in den 1970er-Jahren in Nordirland, wo Anna Burns tatsächlich herkommt. Ihr Trick ist aber, mit den beschriebenen sprachlichen Mitteln, die Geschichte universal und allgemeingültig zu erzählen, in dieser immer wieder rasend witzigen Sprache. Scharfsinnig erzählt Burns Gewalt-Strukturen und davon, wie repressiv Gesellschaften auf Einzelne wirken, die sich nicht anpassen können oder wollen.
Aber es ist nicht nur die politische Gewalt, von der "Milchmann" erzählt. Man könnte diesen Roman auch als Kommentar zu den Sexismus-Debatten dieser Jahre verstehen. Lässig und klug antwortet Anna Burns mit ihrer Geschichte beispielsweise auf Sätze wie diese: "Sie hat es doch provoziert." Oder: "Ist doch gar nichts passiert." Tatsächlich wird die junge Erzählerin nicht körperlich angegriffen, aber durchaus sexuell massiv belästigt. Und was das für Auswirkungen hat, wird hier auf eine Weise erzählt, die jeder und jedem unter die Haut gehen muss. Ein tolles, kluges Buch!