Anna Dostojewskaja: "Mein Leben mit Fjodor Dostojewski"
Aus dem Russischen von Brigitta Schröder
Aufbau Verlag, Berlin 2021
576 Seiten, 26 Euro
Anna Dostojewskaja: "Mein Leben mit Fjodor Dostojewski"
Eine erstaunlich selbstbewusste und selbstbestimmte Frau erinnert sich hier: Anna Dostojewskaja mit "Mein Leben mit Fjodor Dostojewski". © Deutschlandradio / Aufbau Verlag
Die Frau, die Dostojewski vor dem Ruin rettete
05:03 Minuten
Anna Dostojewskaja, Ehefrau von Fjodor Dostojewski, erinnert sich an das turbulente Leben mit ihrem Mann. Der war, erfahren wir, immer wieder auf der Flucht vor Schuldnern und schrieb unter extremen Zeitdruck - aber auch ein liebevoller Familienvater.
Klingt wie der Stoff eines leicht verkitschten Romans: Eine junge Stenografin wird auf Empfehlung ihres Professors zu einem berühmten Schriftsteller geschickt. Der muss wegen eines Knebelvertrags vier Wochen später einen fertigen Roman abliefern. Bei Nichterfüllung droht ihm der finanzielle Ruin und der Verlust sämtlicher Urheberrechte.
Das ungleiche Paar – er ist mehr als doppelt so alt – macht sich ans Werk. Er diktiert, sie stenografiert, und das Wunder geschieht: Innerhalb von vier Wochen ist der Roman geschrieben. Der Schriftsteller macht seiner Retterin eine Woche später einen Heiratsantrag, die beiden bleiben bis zu seinem Tod 14 Jahre lang ein Paar auf Augenhöhe.
Detailreiche Lebendigkeit
Auch wenn Anna Dostojewskaja ihre Erinnerungen erst 30 Jahre nach dem Tod ihres Mannes - den großen Schriftsteller Fjodor Dostojewski - niederschrieb, glänzen diese durch detailreiche Lebendigkeit. Während ihrer Ehe führte sie Tagebuch und zog später die eigene Briefkorrespondenz mit ihrem Mann sowie Quellen anderer Zeitgenossen für ihre Aufzeichnungen heran.
Eine erstaunlich selbstbewusste und selbstbestimmte Frau erinnert sich hier. Mehrfach verweist Anna Dostojewskaja auf die prägende Wirkung der liberalen und reformorientierten 1860er-Jahre, als sich Frauen in ihrem Milieu - sie kam aus einer Beamtenfamilie - eigene berufliche Ziele setzten. Einige Jahre nach der Eheschließung nahm Dostojewskaja die Dinge in die Hand und gab die Werke ihres Mannes in einem eigenen Verlag heraus.
Eheleben mit Krankheit und Schulden
Das prägende Erlebnis seines Lebens – eine Scheinhinrichtung wegen revolutionärer Tätigkeiten und die Verbannung nach Sibirien – lag zu diesem Zeitpunkt schon zwei Jahrzehnte zurück. Der Fokus des Buches liegt fast ausschließlich auf dem Alltag der Dostojewskis in der gemeinsamen Zeit ab 1866. Es ist die Nahaufnahme eines bewegten und anstrengenden Lebens.
Drastisch beschreibt Anna Dostojewskaja die schwere Epilepsie ihres Mannes und seine Spielsucht vor allem während der vier Jahre im Ausland – quasi auf der Flucht vor Gläubigern und der Familie seines verstorbenen Bruders, die Dostojewski finanziell unterstützen musste. Fast alle Romane entstanden unter enormem Zeitdruck und mit einem riesigen Schuldenberg im Nacken, oft mit Dostojewskaja als Stenografin.
Ein idealisierter Familienvater
Auf der anderen Seite stehen gemeinsame Aufenthalte auf dem Land während der Sommermonate und euphorische Beschreibungen von Museumbesuchen in Dresden oder Italien. Bewegend sind zahllose Passagen über die vier gemeinsamen Kinder, von denen zwei früh starben.
Etwas idealisiert zeichnet Anna Dostojewskaja ihren Mann als extrem liebevollen Familienvater und tief religiösen Menschen, dem die Kritik des Feuilletons an seinem Werk zusetzte. Umso triumphaler gerät am Ende des Buchs die Beschreibung der Beerdigung Dostojewskis mit annähernd 100.000 Menschen auf den Straßen St.Petersburgs.
Der instrumentalisierte Großschriftsteller
Kaum ein anderer Klassiker der russischen Literatur wird auch heute noch in Putins Russland so gefeiert wie Dostojewski. Er ist der meistpublizierte Schriftsteller des 19.Jahrhunderts. Prächtige Neuausgaben seiner Bücher erscheinen. Es gibt mehrteilige TV-Adaptionen seiner Romane. Sowohl die russische Regierung als auch die russisch-orthodoxe Kirche und ultrarechte Philosophen wie Alexander Dugin instrumentalisieren Dostojewskis Ideen über das auserwählte Russland heute für ihre Zwecke.
Doch sein Werk ist von großer Vielstimmigkeit gekennzeichnet. Anna Dostojewskaja, die in ihren Erinnerungen auf sozialphilosophische und politische Aspekte verzichtet, zeichnet das lesenswerte, nuancierte Bild einer ambivalenten Persönlichkeit, die längst nicht so eindeutig festzulegen ist.