Anna Gien, Marlene Stark: "M"

Neuköllner Porno-Roman mit cooler Heldin

11:36 Minuten
Schwarzweißbild der beiden in schwarz gekleideten Autorinnen
Anna Gien und Marlene Stark: "Diese Protagonistin will sich befreien. Aber diese Selbstermächtigung läuft ins Leere." © Julien Menand
Moderation: Joachim Scholl |
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Anna Gien und Marlene Stark haben lange in Berlin-Neukölln gewohnt. Dort spielt ihr Roman "M" mit einer Hauptfigur, die die Nächte zum Tag und neue sexuelle Erfahrungen macht. Warum sie ihr keinen Namen geben wollten, erklären die Autorinnen.
Joachim Scholl: Anna Gien und Marlene Stark leben in Berlin, sind beide jung, Erstere ein paar Jahre unter 30, die andere ein paar drüber. Gemeinsam haben sie jetzt einen Roman geschrieben, bei dem alle, die ihn gelesen haben, so was wie "Boah" sagen – ich auch, weil dieses Teil so laut, so radikal, so cool, so oversexed und dabei noch echt lustig ist.
Ich sag gleich am Anfang, dass mich dieses Buch umso mehr gefangen hat, weil ich seit 25 Jahren dort lebe, wo der Roman spielt, in Neukölln, genauer in Nord-Neukölln, da wo 4 Blocks spielt, Rollbergviertel, Hermannplatz, Sonnenallee. Sie haben beide da gewohnt?
Anna Gien: Ja. Ich bin da mittlerweile weggezogen, ich hab sehr lange da gewohnt.
Scholl: Marlene wohnt noch da, ne?
Marlene Stark: Genau, ich bin zwar sieben Mal umgezogen im Bezirk beziehungsweise immer Kreuzberg, Kreuzkölln und Neukölln hin und her, aber seit sieben Jahren wieder fest in Neukölln.
Scholl: Gleich mal eine Informationsfrage: Seit wann werden denn Frauen anscheinend so problemlos ins Ficken 3000 reingelassen? Das ist Berlins legendärster Schwulenclub direkt am Hermannplatz in der Urbanstraße. Sie waren da, oder?
Gien: Ja, das ist aber gar nicht so, also mittlerweile ist es ziemlich einfach. Es war eine Zeitlang, glaube ich, nicht so einfach, aber der Laden wurde ja jetzt mittlerweile so allgemein in einen Freizeitort verwandelt, und mittlerweile kann man da auch so reingehen und sich alles anschauen.
Scholl: Gehört jetzt so zum Partykiez-Hipsterteil oder wie?
Stark: Ja, ich glaube, die Schwierigkeit ist eher, in den Keller zu kommen, und oben ist es so für alle.

Die Heldin bleibt namenlos

Scholl: Jedenfalls ist das ein authentischer Ort, an dem sich M. herumtreibt – so heißt Ihre Heldin und so heißt auch knapp der Roman "M.": eine Frau in den 20ern, Kunststudentin, Künstlerin, verdient ihr Geld als DJane, die Nächte sind ihr Tag eigentlich, sie gibt sich auch gern mal die Kante und legt dann aber auch gern flach, Männer wie Frauen, nach wem ihr gerade der Sinn steht.
Und dabei hat sie echt Grips, ist so 'ne ganz Coole, Klare, Schnörkellose, die auf die Welt irgendwie ziemlich illusionslos blickt. Ich fand sie von Anfang an super. Warum hat sie denn keinen Namen, wie auch sämtliche anderen Frauen im Buch? Die Kerle kriegen einen.
Gien: Also das war so eine schon relativ gesetzte Entscheidung, obwohl wir auch lange drüber nachgedacht hatten, deshalb, weil sobald in einem Roman oder in einem literarischen Format ein Frauenname fällt – also ob das jetzt Eva ist oder Maria oder Monica oder Paris oder was auch immer –, geht gleich so ein ganzes Assoziationskino im Kopf los. Also die ganzen Geschichten, die es schon gibt, die ganzen Traditionen dieser Frauennamen sind darin so eingeschrieben, weswegen wir unsere Protagonistin so ein bisschen davon loslösen wollten.

250 reale Frauennamen an den Anfang gestellt

Scholl: Aber trotzdem haben Sie ungefähr 250 reale Frauennamen, also richtig ausgeschrieben, vor Ihr Buch gestellt, denen Sie dieses Buch widmen. Fragt man sich natürlich gleich, gibt's diese Frauen oder was ist das für eine Idee?
Stark: Da sind auf jeden Fall, würde ich sagen, popkulturelle Namen mit drin – Freunde, auf jeden Fall auch Namen, zu denen wir alle Assoziationen haben oder eine bestimmte Bindung.
Scholl: Diese M, kann man vielleicht sagen, ist so ein Quer- und Längsschnitt auch Ihren eigenen Biografien? Sie beide stammen aus der süddeutschen Provinz, wenn ich das richtig gelesen habe, beide haben Sie was mit Kunst zu tun. Sie, Frau Gien, kuratieren Ausstellungen, schreiben regelmäßig Kolumnen für "Monopol", das Kunstmagazin, und Sie, Frau Stark, sind selber Künstlerin und auch DJane, und Sie beide haben sich diese Figur und ihre Geschichte gemeinsam ausgedacht. Wie denn?
Gien: Also, um vielleicht noch mal so auf den Kunstkontext einzugehen: Ich glaube, dass wir uns die Figur vielleicht nur deshalb ausdenken konnten und sie auch so schreiben konnten, weil wir uns beide irgendwie so aus der Kunstszene verabschiedet haben. Ich glaube, das war nur möglich in seiner Radikalität, weil wir nicht mehr abhängig sind von den Strukturen, die es dort gibt. Diese Figur ist im Gespräch entstanden.
Es gab die Idee der Figur, lange bevor wir überhaupt wussten sozusagen, wer sie sein soll oder wie sie ausschaut oder was sie ist, aber ich würde schon sagen, dass es was damit zu tun hat, dass wir dieses Leben irgendwie so miteinander geteilt haben.
Scholl: Aber nicht nur jeder Journalistenesel wie ich, sondern wohl alle, die Sie beide kennen, denken und fragen jetzt unbedingt, wer hat denn den Strap-on-Gummischwanz in diesen Roman mit eingebracht?
Stark: Ja, ich glaube, der steht für sehr viel mehr – für irgendwie diese strukturelle Macht, der man begegnet als Künstler, als Künstlerin vor allem, mit der man lernen muss umzugehen. Das ist halt einfach so eine Verbildlichung.

Pornografische Struktur des Romans

Scholl: Im öffentlichen Rundfunk muss man Jugendschutzbestimmungen einhalten, deswegen darf ich jetzt nicht so reden, wie M. redet über Richard zum Beispiel. Mit dem vollzieht sie nämlich den analen Koitus, mal ganz vornehm ausgesprochen, mit diesem Strap-on-Gummischwanz – also sie vögelt ihn in den Hintern.
Stark: Ah, Gummischwanz ist erlaubt?
Scholl: Gummischwanz, ja, könnte man sagen, Dildo kann man auch, glaube ich, sagen. Ja, und diese Nummern und zig weitere, die beschreiben Sie sehr ausführlich, detailliert, explizit, und man fragt sich natürlich sofort, was hat's denn mit dieser, ja, echt scharfen pornografischen Struktur auf sich, die Sie in diesen Roman eingezogen haben, die das ganze Buch durchzieht?
Gien: Es gibt natürlich eine Tradition der Pornografie, die vor allem von Männern geschrieben worden ist. In dem Moment, wo Frauen darüber schreiben, dass sie Sex haben, passiert was ganz anderes, als wenn Männer darüber schreiben, dass sie Sex haben, und zwar, dass sie im Verhältnis dazu, wie die Geschichte vom Leser oder von der Leserin wahrgenommen wird, auch im Expliziten, im Drastischen irgendwie zum Objekt werden, also zum Objekt der Fantasie des Lesers, weshalb gerade die Pornografie für uns so ein interessantes Feld war zu versuchen, da so bestimmte Perspektiven irgendwie umzukehren und teilweise eben auch zu überzeichnen und vielleicht auch die Unmöglichkeit der Umkehrung gerade in der Überzeichnung sichtbar zu machen.
Stark: Ja, aber was ich auch wichtig finde, ist, dass in "M." eigentlich diese weibliche Begierde gar nicht so vorkommt und es ja irgendwie auch wiederum so ein männliches Bild ist oder sie ein männliches Bild verwendet, um ihre eigenen Sprache oder ihre eigene Idee von Sexualität und Begierde zu finden.
Und die Frage ist ja auch, gibt es eine weibliche Begierde, die unabhängig von dieser männlichen ist - beziehungsweise dieser Pornografie, die wir tausendfach kennen, die immer aus der männlichen Perspektive kommt.

Vor allem männliche literarische Vorbilder

Scholl: Aber natürlich stößt so ein Buch und solche Passagen immer so die Tür zu anderer erotischer Literatur auf. Also bei "M." denkt man vielleicht auch spontan an "Die Geschichte der O", die, wie es schließlich herauskam, auch von einer Frau geschrieben wurde, und dann hat sich der Diskurs über den Roman sofort gänzlich gedreht.
Am Anfang hieß es irgendwie gewaltpornografische Männerfantasie von irgend so einem kranken Typen, dann hat's 'ne Frau geschrieben, und plötzlich hieß es, oh, die Selbstermächtigung einer Frau, die zu Dominanz und, was weiß ich, Unterwerfung steht. Ich hab noch an "Catherine M.", also diese Autobiografie von Catherine Millets gedacht. Was hatten Sie im Kopf, gab's da so Vorbilder, Bücher, die Sie angeguckt haben?
Gien: Ich glaube, die Vorbilder, die wir hatten, waren tatsächlich in erster Linie männlich – einfach deshalb, weil also in den Romanen, die von Frauen geschrieben worden sind, es meist so ein bisschen so ein Problem gibt mit der Setzung dieses radikalen Ichs, was viel mehr eine männliche Tradition hat. Also von de Sade über Philip Roth zu Henry Miller ist dieses Ich vor allem eins, was in tatsächlich dreckiger Männerfantasie-Literatur vorkommt.
Scholl: Es ist ja aber bei erotischer Literatur immer das Interessante, in welchem sozialen Kontext sie steht. Über die Jahrhunderte war Pornografie ein Tabu, das man absichtsvoll gebrochen hat, also auch gegen moralische Konventionen oder vor allem gegen die kirchliche Sexualmoral, das heißt, Pornografie war ja auch Kritik.
Heute scheint diese Funktion ja völlig erloschen zu sein. Alles ist legal, die Gesellschaft ist überpornografisiert – YouPorn, mittlerweile wissen Elfjährige, was ein Blowjob ist. Was kann denn Pornografie in der Kunst, in der Literatur eigentlich noch für eine Funktion haben?

Egalitäre Sexualität

Stark: Ich finde eben gerade, das ist auf jeden Fall ein wichtiger Punkt für das Buch, weil es eben vielleicht auch nicht mehr radikal sein kann und auch nicht radikal sein sollte, und dieser Exzess, der bei M. auch sehr konstruiert und gezügelt rüberkommt, ist ja auch so. Unsere Generation hat auf jeden Fall einen sehr gezügelten Exzess. Also man weiß vorher, was im Porno passiert ist, bevor man vielleicht das überhaupt selbst erlebt. Sozusagen finden wir gar keine eigene Sprache für unsere Sexualität. Das zeigt, glaube ich, auch "M.", dass wir da überzeichnet sind.
Scholl: Für meine Begriffe ist es so eine egalitäre Sexualität in dem Roman, deswegen macht es eigentlich auch Spaß zu lesen, weil sie einfach so frisch und fröhlich ist. Es gibt irgendwie keine großen Eifersüchteleien, selbst, wenn man so will, die Gewaltszene, wenn sie also Richard mit dem Dildo ... , hat das trotzdem noch fast 'ne komische und entspannte konsensuale Variante. Ist dieser Roman eine Art feministisches Statement in Richtung von einer weiblichen Selbstermächtigung?
Gien: Es kommt natürlich darauf an, wie man die Frage stellt, aber ich würde eigentlich sagen Nein. Also diese Protagonistin will sich irgendwie befreien, sie weiß selber aber gar nicht so richtig von was – vielleicht von der Langeweile, vielleicht von der strukturellen Ohnmacht, der sie ausgesetzt ist. Aber diese Selbstermächtigung ins Leere läuft, das wird, glaube ich, ziemlich deutlich. Das ist sozusagen in dem – darf ich das sagen – in dem ...

"Wildes Rumgeschwänzel und Rumgevögel"

Scholl: Sie dürfen alles sagen.
Gien: Okay, na gut. Also in dem wilden Rumgeschwänzel und Rumgevögel gibt es halt vielleicht doch keine Erlösung.
Scholl: Werden wir M. wiedersehen? Sie haben gesagt, Sie haben sich aus der Kunstwelt verabschiedet, werden Sie jetzt beide Schriftstellerinnen und vielleicht "M.", der zweite Teil irgendwann? Ich fänd's interessant, wie es weitergeht mit ihr, vor allem, wenn sie auch ein bisschen älter wird.
Gien: Vielleicht kommt sie wieder als Terminator.
Scholl: Ich könnte mir jedenfalls vorstellen, dass Ihr Buch doch ein, ja, auch ein Kultbuch für alle Neukölln-Hipster wird. Meine Lieblingspassage ist übrigens ein Smartphone-Chat zwischen den Protagonistinnen J. und D., da heißt es: Jetzt bin ich noch in der U8 – Herrengedeck? Diesen Witz lösen wir nicht auf, verstehen nur die Insider. Wer es wissen will, schreiben Sie mir eine Mail an lesart@deutschlandradio.de. Anna Gien, Marlene Stark, ich danke Ihnen für Ihren Besuch.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Anna Gien, Marlene Stark: "M"
Verlag Matthes und Seitz, Berlin, 2019
284 Seiten, 20 Euro

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