Anna Haag: "Denken ist heute überhaupt nicht mehr in Mode. Tagebuch 1940–1945"
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Jennifer Holleis
Reclam Verlag, Ditzingen 2021
448 Seiten, 35 Euro
Tagebuch einer Hitler-Gegnerin
07:28 Minuten
Die Pazifistin Anna Haag führte während der Nazizeit ein Tagebuch. Das atemberaubende Zeitzeugnis erscheint nun erstmals vollständig. Nach Kriegsende wollte niemand ihre Aufzeichnungen drucken – sie waren für die Deutschen wenig schmeichelhaft.
Westdeutsche Männer verdanken ihr viel: 1948 formulierte Anna Haag als Landtagsabgeordnete in Baden-Württemberg ein Gesetz, das aus nur einem Satz bestand: "Niemand darf zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden." Von dort aus wanderte dieser Satz mit einer folgenreichen Verwässerung ins Grundgesetz: "Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden." Dennoch ein Triumph des Pazifismus, nur möglich in einem kurzen historischen Moment.
Dass dieser sich überhaupt ereignete, verdankt sich einer Frau, die kaum einer kennt: der 1888 geborenen schwäbischen Journalistin Anna Haag. Der Erste Weltkrieg brachte sie und ihren Mann zum Pazifismus, überzeugte Demokraten waren beide. Mit 52 Jahren beginnt die beruflich kaltgestellte Hitler-Gegnerin, 1940 ein Tagebuch zu führen, das sie aus Angst vor Denunziation und Gestapo versteckt. Aus gutem Grund: Die Nazi-Nachbarn in Stuttgart beäugen die als Abweichler bekannte Familie misstrauisch, Anna Haag kann ihre Klappe oft nicht halten.
Alltagsszenen und Längsschnittstudie
Was sie nicht zu sagen wagt, vertraut sie dem Tagebuch an: ein atemberaubendes Abbild der Nazizeit. Haag schreibt pointiert und druckreif; auf Fotos der handschriftlichen Kladden lässt sich kaum eine Korrektur erkennen. Regelmäßig hört sie BBC - "unsere Tankstelle" nennt sie den Sender - und gleicht die Informationen mit den Lügen der Nazi-Presse ab.
Und sie schaut den Leuten aufs Maul, notiert Alltagsszenen, dokumentiert die ständigen Meinungsumschwünge im Auf und Ab der Propaganda bis hin zur letzten großen Wendung. Ab Mitte 1944 beginnen Mitläufer sich einzureden, sie seien immer schon gegen die Nazis gewesen – was das Tagebuch aber faktisch widerlegt. Es sind oft dieselben Personen, die Haag wie in einer Längsschnittstudie beobachtet: den Nazi-Apotheker um die Ecke und den fanatischen eigenen Schwiegersohn, vor dem sich eine ihrer Töchter zurück ins Elternhaus geflüchtet hat.
Heimliche Medienkritik
In Rang und Stellenwert kommt das den Klemperer-Tagebüchern gleich, auch in der unmissverständlichen Haltung. Aber Haags Position ist natürlich eine andere als die des jüdischen Verfolgten Klemperer in Dresden: Sie wird nicht per se drangsaliert, sondern gefährdet sich aus eigenem Willen durch ihre oppositionelle Einstellung: "Ich bin voll von hasserfüllter Ablehnung und grenzenlosem Nichtverstehen können! Ein Fremdling im eigenen Land!"
Wo es geht, lässt sie Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen Brot zukommen. Wären ihre Kladden gefunden worden, hätte sie sich wohl kaum aus den Klauen der Gestapo herauswinden können. Denn was sie schreibt, geht über Privates hinaus, kommt professioneller Medienkritik nahe: Haag klebt Zeitungsausschnitte ins Tagebuch, meist aus dem Lokalteil, und kommentiert diese – so kritisch wie verächtlich:
"'Die Engländer haben in Kalabrien wieder einmal bewiesen, dass sie nur dort Landungen vornehmen, wo sie ihre Menschen schonen können …' Haben Sie etwas anderes erwartet? Wo sollen 'militärische Idioten' auch sonst landen? 'Menschen von Format' – wie unser göttlicher Führer, landen großartigerweise selbstverständlich da, wo es die meisten Opfer kostet!"
In Tagebuchliteratur, die sich normalerweise ums eigene Ich dreht, ist dies eine ungewöhnliche Perspektive. Schon von der Motivation her scheint Haag ein historisches Projekt im Sinn gehabt zu haben: Schreiben, was ist, damit hinterher keiner sagen kann: "Es war ganz anders."
In Tagebuchliteratur, die sich normalerweise ums eigene Ich dreht, ist dies eine ungewöhnliche Perspektive. Schon von der Motivation her scheint Haag ein historisches Projekt im Sinn gehabt zu haben: Schreiben, was ist, damit hinterher keiner sagen kann: "Es war ganz anders."
Bitter, aber wenig verwunderlich: Als sie versuchte, diese Aufzeichnungen unmittelbar nach dem Krieg zu publizieren, wollte das keiner drucken. Der Spiegel wäre zu wenig schmeichelhaft gewesen.
Eine teils regimetreue Familie
Wie in vielen Familien droht Verrat aus dem inneren Kreis. Ehemann und daheimlebende Tochter sind Verbündete, der Bruder jedoch regimetreu. Als besonders widerwärtiger Auftriumphier-Nazi verweigert der Schwiegersohn Haags Tochter die Scheidung und droht unentwegt mit Denunziation.
Zum Glück leben der Sohn und eine weitere Tochter seit den 1930er-Jahren in England. Dass dieser Sohn als "Feind" nach Kanada verschifft und interniert wird, ist das Glück für Anna Haag: So wird er nicht Soldat. Freiheit durch Gefangenschaft - in diesen Jahren keine paradoxe Aussage.
Zwei ihrer Kinder in Sicherheit zu wissen, verstärkt ihren Mut. Sie ist gut vernetzt, hört und liest viel. Man erfährt etwas über "offizielle Richtlinien für Mundpropaganda": Goebbels wies kleine Nazis vor Ort an, welche Gerüchte sie verbreiten müssen.
Oder Haag beschreibt Fälschungen von Todesursachen in offiziellen Statistiken, weil man ansteckende Infektionskrankheiten verschweigen will. Von Fronturlaubern und aus Soldatenbriefen weiß sie, was im Osten vor sich geht und urteilt hart:
"Es gibt in Deutschland Menschen, die vorgeben, noch nie etwas … von den Judenmassakern gehört zu haben. Man fasst sich an den Kopf."
Jeder, der wissen wollte, konnte wissen. Sogar über die Versuche ist sie informiert, ein "Atomgeschoss" zu konstruieren - die Wu-wa, die "Wunderwaffe". Ihre wahre Stärke liegt freilich im Erkennen der Lage. Unmittelbar nach dem Überfall auf die Sowjetunion 1941, notiert sie:
"Unser einziger, aber auch wirklich unser einziger, jedoch unerhört großer Kriegsgewinn wäre die Tatsache, dass wir ihn verlören."
Ein ergreifendes Buch, ein Zeugnis für unbeirrtes Denken und ein Vorbild an Zivilcourage.