Anna Katharina Hahn: Das Kleid meiner Mutter
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016
310 Seiten, 21,95 Euro
Raffinierte Zeitdiagnose
Eine junge Akademikerin aus Spanien versucht ihr Glück in Deutschland - und scheitert. Zurück in der Heimat muss sie wieder bei ihren Eltern einziehen. Doch dann geschehen die bizarrsten Dinge. Anna Katharina Hahn erzählt in "Das Kleid meiner Mutter" vom Leben, wie es ist – und einer fantastischen Parallelrealität.
Die in Stuttgart geborene Schriftstellerin Anna Katharina Hahn gilt als brillante Beobachterin jenes Milieus, das man als urbanes Kulturbürgertum bezeichnet. In zwei Romanen, "Kürzere Tage" (2009) und "Der schwarze Berg" (2012), erzählte sie von Menschen, die mit der Außengestaltung ihres Lebens dessen kulturelle Entwurzelung überdecken. Beide Romane spielten im Schwabenland. Hahns Heimatregion war bislang der Fundus und der poetische Echoraum ihrer Literatur. Mit ihrem neuen Roman überschreitet die Autorin nun gleich mehrere Grenzen, sowohl die des ästhetischen Konzepts als auch die der Geografie: "Das Kleid meiner Mutter" lässt den Realismus und Schwaben hinter sich.
Die Erzählung setzt im Sommer 2012 ein und skizziert zunächst die prekäre Lage der Generation junger dauerarbeitsloser Akademiker, die unter der Wirtschaftskrise in Spanien leiden. Die Grundschullehrerin Anita ist ein exemplarischer Fall: Nach vergeblichen Anläufen auf dem Arbeitsmarkt bleibt der jungen Spanierin nichts anderes übrig, als zu ihren Eltern zurückzukehren und ihr Kinderzimmer wieder zu beziehen. Von den Freunden, die sich tagsüber zu Protestmärschen in der Madrider Innenstadt versammeln und ihre Abende und Nächte mit Freizeitroutinen verbringen, sondert sie sich mehr und mehr ab.
Die toten Eltern schrumpfen auf Puppengröße
Eines Tages findet sie ihre Eltern Oscar und Blanca tot in der Wohnung vor. Mit diesem Ereignis schlägt der Roman auf ebenso raffinierte wie geschmeidige Weise den Weg ins phantastische Erzählen mit surrealen Elementen ein. Die toten Eltern beginnen zu schrumpfen, sind am Ende so klein, dass Anita sie wie Püppchen auf den Schoß nehmen kann. Und Anita selbst wandelt sich zur Orlandofigur: Sobald sie Kleider ihrer Mutter anzieht, erlangt sie deren Gestalt, wird eleganter, selbstsicherer, verführerischer, als sie selbst je war. Aus wirtschaftlicher Verarmung und biografischer Aussichtslosigkeit entwickelt sich wie im Traum das Maskenspiel einer phantastischen Parallelrealität. Mit großer künstlerischer Sicherheit macht die Autorin diesen Übergang plausibel.
Ironische Sticheleien gegen den Literaturbetrieb
Allerdings versenkt sie in Anitas Gegenwart eine weitere, tief in die Vergangenheit reichende Geschichte. Es entsteht somit eine Art Roman im Roman, der zunehmend mehr und schließlich etwas zu viel Raum einnimmt: In der Hinterlassenschaft ihres Vaters findet Anita Briefe und Schriften einer Übersetzerin, mit der ihn offensichtlich ein Liebesverhältnis verband. Diese Frau wiederum stand im Bann eines geheimnisvollen deutschen Schriftstellers namens Gert De Ruit, der sich der Öffentlichkeit radikal entzieht und sich bei Preisverleihungen an ihn von Pizzaboten oder Prostituierte vertreten lässt. De Ruit ist eine höchst reizvolle Thomas-Pynchon-Figur, der "Das Kleid meiner Mutter" ironische Sticheleien gegen den Literaturbetrieb verdankt. Aber das Erzählmodell romantischer Verschachtelung wird vor allem in der zweiten Romanhälfte leicht überstrapaziert. Die Hauptprotagonistin Anita droht hinter dem zweiten Protagonisten Gert De Ruit zu verschwinden. Gleichwohl begegnet der Leser auch in diesem Roman Anna Katharina Hahn als unangestrengter Stilistin und unbestechlicher Zeitdiagnostikerin.