Anna Seghers: „Und habt ihr denn etwa keine Träume“
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Hoffnungssucherin fürs Heute
07:02 Minuten
Anna Seghers
Und habt ihr denn etwa keine TräumeAufbau, Berlin 2022336 Seiten
22,00 Euro
Die Erzählungen von Anna Seghers handeln von Flucht und Verlorensein. Viele davon schrieb die jüdische Schriftstellerin während des Zweiten Weltkriegs im Exil. Heute kann man sie neu entdecken.
Für den Schriftsteller Ingo Schulze gehören Anna Seghers’ Erzählungen und Legenden „zum Besten, was die deutschsprachige Literatur des 20. Jahrhunderts hervorgebracht hat“. Seine Auswahl hat er nun für den Aufbau Verlag zusammengestellt.
Auf diese Weise eine Klassikerin zu beleben, ist wahrlich nicht neu. Wie Anna Seghers’ Erzählungen dadurch aber wieder ganz neu und frisch in der Zeit stehen, schon.
Bewegtes Jahrhundertleben
Schulzes Vorwort, weit vor den Schrecken des Ukrainekrieges verfasst, liest sich nicht nur als blitzgescheiter Text über die geschätzte Autorin und ihr Erzählen, „für das immer und überall Menschen ihre Köpfe zusammenstecken“, sondern öffnet die Augen für ein Wiederlesen, gerade ihre Exiltexte sprechen uns jetzt direkt an.
Es war ein bewegtes Jahrhundertleben, das der Anna Seghers. 1900 als Netty Reiling in eine jüdische Familie in Mainz geboren, erlebt sie Kaiserreich, Weltwirtschaftskrise und Machtergreifung der Nazis. Sie flieht zunächst nach Frankreich, während des Zweiten Weltkriegs dann nach Mexiko. Bereits auf der Überfahrt beginnt sie ihren Exilroman „Transit“, die Hollywood-Verfilmung machte sie weltberühmt. In den späten 1940er-Jahren kehrt sie nach Deutschland zurück und lebt als überzeugte DDR-Bürgerin bis in die 80er-Jahre.
Erzählungen von Flucht und Verlorenheit
Die 14 ausgewählten Erzählungen sind auch ein verdichtetes Lebensbild, stilistisch sehr verschieden, von der Groteske über die Hymne bis zum Märchen. Sie erzählen auf vielfältige Weise von Flucht und Verlorenheit – in vielen Tonlagen.
So ist „Reise ins Elfte Reich“, ein paar Jahre vor „Transit“ auch im Exil entstanden, ein verrückt grotesker Text. In das Elfte Reich dürfen nur jene einreisen, die weder Pass noch Empfehlungsschreiben haben; diejenigen aber mit Geld und allerbesten Papieren werden abgewiesen, auch wenn sie ihre Papiere kurzerhand in den Schlund stopfen und runter würgen. Ironisch bitter und scharf, Anna Seghers braucht nur wenige Seiten, um ihre Verachtung und ihren Spott über Privilegien und „tödliche Bürokratie“ offenzulegen, heute nicht weniger aktuell als vor 90 Jahren.
Parabel auf jüdische Geschichte
Einer der eindringlichsten Texte dieses Erzählbandes ist „Post ins gelobte Land“. Dass Anna Seghers Jüdin war, spielte in ihren Texten und ihrem Selbstverständnis als Kommunistin und spätere DDR-Bürgerin kaum eine Rolle. Umso bemerkenswerter ist dieses Requiem, worin sie die Geschichte des Juden Jakob Levi erzählt, dessen Familie als einzige aus dem Städtchen L. das Pogrom überlebt und später in Paris eine neue Heimat findet.
Mit wenigen Strichen, in einer blanken Sprache zeichnet sie seinen Lebensweg, wie er ein berühmter Augenarzt wird – und als er selbst schwer erkrankt, seinem Vater nach Palästina vorsorglich Briefe schreibt, stapelweise. Als er stirbt, verschickt seine Frau nun die Briefe in regelmäßigen Abständen, „als sei durch diesen Briefwechsel der Tod selbst überlistet“. Dieser rührende Text hält, geradezu parabelhaft, die Geschichte der europäischen Juden des 20. Jahrhunderts fest. Zugleich ist er eine leise Hymne darauf, wie allein die Illusion, die Vorstellung vom Glück, Leben retten kann.
Sehnsucht nach Glück
Das Seghers-Best-Of, das seinen Titel „Und habt ihr denn etwa keine Träume“ ihrer sagenhaften „Räuber Woynok“-Geschichte entlehnt, offenbart ein Schreiben von magischer Kraft, sich gegen das scheinbar Unabänderliche aufzulehnen.
Das Hoffnungsvolle, diese Sehnsucht nach dem Glück, zieht sich durch all ihre Erzählungen – und zeigen Anna Seghers als große Glückssucherin, die auch unsere Gegenwart braucht.