Anna Weidenholzer: "Weshalb die Herren Seesterne tragen"
Roman, Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2016, 192 Seiten, 20 Euro
Verwirrt in der österreichischen Provinz
Der Held in Anna Weidenholzers Roman zieht aus, um das Glück zu messen. Der pensionierte Lehrer will in einem Bergdorf von den Leuten wissen, wie es um ihre Lebenszufriedenheit steht: Doch eigentlich erforscht er vor allem sich selbst.
Einen Erzählungsband und zwei Romane hat die 32-jährige, in Wien lebende Oberösterreicherin Anna Weidenholzer bisher veröffentlicht. Beide Romane haben in ihrer stillen Intensität, ihrem Sinn für Verschrobenheiten und ihrem leisen Humor sofort die Aufmerksamkeit der Kritiker und der Literaturpreis-Jurys erregt und zu Nominierungen für den Preis der Leipziger Buchmesse ("Der Winter tut den Fischen gut", 2013) und den Deutschen Buchpreis ("Weshalb die Herren Seesterne tragen", 2016) geführt.
In ihrem ersten Roman thematisierte Weidenholzer das Unglück einer älteren Frau und ging den seelischen Verheerungen nach, die der Sturz in die Arbeitslosigkeit bei ihr anrichtet. Ihr neuer Roman "Weshalb die Herren Seesterne tragen" umkreist nun das Thema Glück, bescheidener gesagt: das Thema Zufriedenheit, allerdings auf ganz andere Art als die zahllosen Glücksratgeber auf dem Markt.
Der Unzufriedenheit auf der Spur
Die Autorin schickt ihren Protagonisten Karl, einen pensionierten Lehrer, auf eine Forschungsreise in die österreichische Provinz. Angeregt durch die Idee des Königs von Bhutan im Himalaya, der 1972 die regelmäßige Erforschung des "Bruttonationalglücks" seiner Bürger anordnete, will Karl mit einem Fragebogen, den er mit seiner Frau Margit selbst erstellt hat, die Lebenszufriedenheit seiner Landsleute erforschen. Genauer: Er will "herausfinden, woher deren Unzufriedenheit kommt, diese Angst, die manche in die falsche Richtung treibt".
Karl beginnt seine Frage-Tour in einem nach dem Zufallsprinzip ausgewählten Wintersportort, einem seit langem schneelosen und daher glücklosen Ski-Ort, der mangels Touristen allmählich herunterkommt. (Weidenholzer war 2012 Stadtschreiberin in Kitzbühel!) Karl quartiert sich als einziger Gast im Hotel Post ein und macht die unfreundliche Gastwirtin zu seiner ersten Test-Person. Doch die Frau unterläuft den Fragenkatalog, indem sie ihrerseits Karl Fragen zu stellen beginnt. Die Sitzung endet damit, dass die Wirtin dem Glücksforscher die Tarot-Karten legt.
Das Feldforschungsvorhaben läuft aus dem Ruder
Damit ist der weitere Verlauf vorgegeben: Karls Feldforschungsvorhaben läuft aus dem Ruder. Sein ohnehin dubioses und methodisch anfechtbares Konzept entgleitet ihm immer mehr: Zum einen, weil die Einheimischen unwillig sind, Karls Fragenkatalog zu beantworten, ihm aber bereitwillig ihre privaten Intimitäten anvertrauen – beispielsweise, warum sich die Männer des Ortes nicht wie üblich im Gasthaus, sondern an der Tankstelle treffen; und zum anderen, weil immer deutlicher wird, dass es dem verwirrten und ratlosen Karl unbewusst um die Vermessung des eigenen Glücks oder Unglücks geht.
Statt zu seinen Probanden die erforderliche Distanz zu halten, sieht sich Karl immer mehr in das Beziehungsgeflecht der Einwohner in diesem dörflichen Kosmos verwickelt. Allmählich wird er selbst Teil dieser Beziehungswelt und erfährt dadurch mehr und anderes über die wahren Stimmungen im Dorf, als es mittels Fragebogen möglich gewesen wäre. Als Karls einzige Verbindungslinie nach außen erweist sich die Rückkopplung zu seiner abwesenden Frau Margit, der er telefonisch oder auch nur still monologisierend ständig Bericht erstattet, ohne genau zu wissen, wie sie derzeit zu ihm und seiner Expedition steht, ja, ob sie überhaupt zuhause oder etwa in den Urlaub gefahren ist. Margit ist die abwesende große Anwesende (oder umgekehrt) – Coach, Mission Control und Projekt-Bewerterin in einem.
Breiter Raum für Komik und hintergründigen Humor
Diese Konstellation bietet der Autorin Weidenholzer breiten Raum für Komik und hintergründigen Humor. An skurrilen Einfällen mangelt es ihr nicht. Schon der rätselhafte Romantitel, der die Frage aufwirft, weshalb eine Gruppe Herren auf einer historischen Fotografie Seesterne am Revers tragen, bleibt in der Schwebe, wie die Autorin überhaupt die Stimmung ihres hintergründigen und vieldeutigen Romans in der Schwebe zu halten versteht – zwischen verschrobenem Witz und stiller Verzweiflung, zwischen Lächeln und Traurigkeit.