Anna Woltz: "Nächte im Tunnel"

Bombeneinschläge, Angst und Not

05:05 Minuten
Auf dem Cover ist die Zeichnung eines Mädchens zu sehen, das die Augen geschlossen hält und eine Decke um die Schultern legt. Über ihren Kopf schwirren Bomber.
© Carlsen Verlag

Anna Woltz

Aus dem Niederländischen von Andrea Kluitmann

Nächte im TunnelCarlsen , Hamburg 2022

224 Seiten

16,00 Euro

Von Dina Netz |
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London wird bombardiert, und die 14-jährige Ella ist mittendrin. Doch sie findet Freunde, die ihr helfen. Mit authentischen Figuren erzählt die niederländische Autorin Anna Woltz vom Zweiten Weltkrieg.
Ella ist 14 und erhofft sich nichts mehr vom Leben. Ein Jahr lang war sie krank, wurde wegen Polio behandelt. Sie ist immer noch schwach, ein verkrüppelter Fuß ist ihr geblieben.
"Geplant war, dass ich danach fast erwachsen wäre, dass ich mich auf die Suche nach einem Job machen könnte", sagt die Icherzählerin Ella. Doch als der Jugendroman "Nächte im Tunnel" der Niederländerin Anna Woltz einsetzt, steht Ella mit ihrem kleinen Bruder Schlange für einen Schlafplatz im U-Bahnhof: Im September 1940 bombardiert Nazi-Deutschland London aus der Luft. Aus dieser tristen Realität flüchtet sich Ella, indem sie hoffnungsvolle Geschichten aufschreibt.

Wie magere Sardinen

Doch bald lässt sich die Wirklichkeit nicht mehr ausblenden: Bombeneinschläge, Angst, Bedrohung, Not und Tod. Die Nächte, in denen die Bomben fallen, verbringt Ella mit ihrer Familie und Hunderten anderen in einem U-Bahnhof der Central Line, "wie magere Sardinen in einer kolossalen Büchse liegen wir Seite an Seite auf dem Boden". Es stinkt, es ist laut – der Preis für eine relative Sicherheit.
"Nächte im Tunnel" wirkt geradezu furchtbar aktuell: Auch in unserer Gegenwart suchten viele Ukrainerinnen und Ukrainer in U-Bahnhöfen Schutz vor den russischen Angriffen.
Ella trifft auf Jay, 16, der sich mit allerlei Tricksereien allein durchschlägt. Und auf Quinn, Tochter eines Grafen, die von zu Hause fortgelaufen ist, um Krankenschwester zu werden. "Ich traue mich alle gefährlichen Sachen", sagt Quinn, und ein bisschen von ihrem Lebensmut springt auf Ella über. Auf einmal spürt sie, "dass ich mehr bin als ein verkrüppeltes Bein".
Quinn, Jay, Ella und ihr kleiner Bruder Robbie werden zu einem eingeschworenen Grüppchen, das sich durch die Kriegszeit hilft. Ella lernt, dass niemand ist, was er auf den ersten Blick zu sein scheint.

Auch im Krieg sind die Reichen im Vorteil

Dass Woltz ihre Hauptfiguren aus drei verschiedenen sozialen Schichten kommen lässt, wirkt ein bisschen schematisch, aber es verdeutlicht, dass sogar im Krieg Reiche im Vorteil sind, zum Beispiel durch einen eigenen Luftschutzkeller.
Die Jugendlichen selbst sind sehr authentisch gezeichnet in ihrer Wut, ihrer Verzweiflung, aber auch ihrem unbedingten Lebenswillen. Woltz erzählt in einer dialogreichen, schlanken Sprache, die Andrea Kluitmann genauso schnörkellos ins Deutsche übertragen hat.
In den vergangenen Jahren sind zahlreiche Kinder- und Jugendbücher über den Zweiten Weltkrieg erschienen, zum Beispiel von Wilma Geldof, Cornelia Franz oder der KZ-Überlebenden Hédi Fried. Bianca Schaalburgs Graphic Novel "Der Duft der Kiefern" über die NS-Verstrickung ihrer eigenen Familie und Kirsten Boies Roman "Dunkelnacht" sind gerade für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert.
Anna Woltz fügt diesen literarischen Stimmen eine sehr überzeugende hinzu, die davon erzählt, dass der Mensch zu den schlimmsten Dingen fähig ist - aber auch zu den besten.
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