Kein Grund zur Hysterie
Mit ihrem Treffen zeigen Erdogan und Putin, wie beliebig sie ihre Außenpolitik den eigenen Interessen anpassen könnten, kommentiert Gesine Dornblüth. Wer aber eine neue gefährliche Allianz heraufziehen sehe, lasse beiden zu viel der Ehre zukommen.
Wenn sich zwei Autokraten zusammentun, dann ist das nicht schön, keine Frage. Aber wenn sie einander über Nacht zum Feind erklären, alle Beziehungen abbrechen, und dann noch militärisch in derselben Region aktiv sind, dann ist das zutiefst beunruhigend. Die monatelange Funkstille zwischen den Regierungen der Türkei und Russlands stellte ein unkalkulierbares Risiko dar. Und deshalb ist es gut, dass Putin und Erdogan wieder miteinander reden.
EU bleibt wichtigerer Handelspartner
Also, bitte, weniger Hysterie. Wer jetzt eine neue gefährliche Allianz heraufziehen sieht, ein antiwestliches militärstrategisches Bündnis gar, der lässt den beiden Staatsführern mit ihrem ohnehin schon übersteigerten Selbstbewusstsein zu viel der Ehre zukommen. Bei allem Respekt für türkische Tomaten und den Geldbeutel russischer All-Inclusive-Touristen – der um ein vielfaches wichtigere Handelspartner für beide Länder ist und bleibt die EU.
Außerdem: Erdogan hat schon vor seiner Reise nach St. Petersburg deutlich gemacht, dass die Positionen der türkischen und der russischen Regierung in Bezug auf Syrien komplett auseinandergehen.
Natürlich gab es schöne Worte. Von einem "neuen Kapitel" in den türkisch-russischen Beziehungen war die Rede, vom "lieben Freund Wladimir". Aber real geht es erst mal darum, den Zustand vom vergangenen Herbst wiederherzustellen. Und da ist noch viel zu tun.
Interessant an dem heutigen Treffen ist etwas anderes: Es hat schwarz auf weiß gezeigt, wie beliebig Putin und Erdogan ihre Außenpolitik den eigenen Interessen anpassen und gleichsam mit einem Fingerschnipp ändern. Heute profitieren beide von der Annäherung. Erdogan kann den USA und der EU signalisieren: "Wir können auch anders" – ein bisschen zumindest. Und es finden sich ja genug Hasenfüße in Brüssel, die sich allein schon von einer Reiseankündigung beeindrucken lassen. Putin seinerseits kann Stärke demonstrieren: Es ist Erdogan, der auf ihn zugegangen ist. Russland ist erneut international aufgewertet.
Heute Feind, morgen Freund
Strategische Interessen in der Außenpolitik? Fehlanzeige. Wer gestern bester Freund war, ist heute Todfeind und morgen wieder bester Freund. Das spiegelt sich auch in der öffentlichen Meinung. Vor einem Jahr noch hielt nur ein Prozent der Russen die Türkei für einen feindlichen Staat. In diesem Frühsommer war es fast jeder Dritte. Das ergaben Umfragen des unabhängigen Levada-Instituts. Man braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, dass die Türkei bald wieder zu den befreundeten Staaten zählt.
Und das ist das wahrhaft Erschreckende an dem heutigen Treffen: Es zeigt, wie beliebig und wie unberechenbar die türkische und die russische Außenpolitik sind. Und wie sehr die Autokraten die öffentliche Meinung im Griff haben.