Annäherungen an den berühmten Vater
Ursula Priess, die älteste Tochter des bekannten Schweizer Schriftstellers Max Frisch, setzt sich in ihrem Prosaband "Sturz durch alle Spiegel" mit der komplizierten Tochter-Vater-Beziehung auseinander. Die literarische Annäherung an den Vater ist eine Mischung aus Vergangenheitsbearbeitung und Realitätsvernebelung.
Ursula Priess war 23 Jahre alt, als sie 1966 die Schweiz verließ, sich von der Literaturwissenschaft, die sie bis dahin studiert hatte, abwandte und sich im Norden Europas, in Schweden und Schottland, ein neues Leben als renommierte Heil- und Sozialpädagogin aufbaute. Ursula Priess ist die älteste Tochter Max Frischs, sie stammt aus der ersten Ehe des weltberühmten, 1991 verstorbenen Schriftstellers.
In dem schmalen Prosaband "Sturz durch alle Spiegel", ihrer ersten literarischen Veröffentlichung, beschreibt sie aus teils authentisch-autobiografischer, teils fiktiver Sicht die Verzerrungen und Belastungen, die sie als Kind eines Mannes, der die Rolle als Künstler jeder anderen vorzog und der auch seine Umwelt in literarischen Stoff verwandelte, ein Leben lang begleiteten.
In kurzen Prosapassagen und Kapiteln verschränkt Ursula Priess ihre Kindheits-, Jugend- und Erwachsenenerinnerungen zum unchronologischen Bild einer heiklen Tochter-Vater-Beziehung. Auf den ersten Blick zählt "Sturz durch alle Spiegel" in die lange Reihe jener Literatur, in der sich die nachwachsende Generation an der vorangegangen abarbeitet, sich von ihr distanziert oder gar verabschiedet. Fraglos folgt auch Ursula Priess dieser Intention.
Auf den zweiten Blick folgt sie aber auch der entgegengesetzten Intention: Dem unbedingten Wunsch nach Annäherung an den Vater, ja nach Angleichung und Mimikry. Dies erweist sich nicht nur in Form und Sprachgestus, die aufs Haar dem autobiografischen Buch "Montauk" von Max Frisch ähneln. Es erweist sich auch in der Rahmenhandlung, die Ursula Priess um ihre Erinnerungen gelegt hat. In dieser Rahmenhandlung erzählt sie nicht in der ersten Person, sondern in der dritten Person Singular von der Begegnung einer etwas älteren Frau mit einem ebenfalls älteren Mann. Die beiden telefonieren fast ein Jahr, dann treffen sie sich in Venedig. Die aufkeimende Affäre wird erstickt, als sich der Verdacht der Frau - die mit Ursula Priess wohl identisch ist - erhärtet, bei dem Mann handele es sich um jenes Phantom, jenen heimlichen Liebhaber Ingeborg Bachmanns, dessen unbeweisbare Existenz Max Frisch vor Jahren in den Wahn der Eifersucht trieb.
Auf der symbolischen Ebene der Figurenanordnung setzt sich die Tochter Ursula Priess so folglich an die Stelle Ingeborg Bachmanns. So erfüllt sich der unbewusste Tochtertraum, dem Vater als Frau entgegenzutreten. Die Mischung aus Vergangenheitsbearbeitung und Realitätsvernebelung gibt dem Buch "Sturz durch alle Spiegel" insgesamt einen etwas zwiespältigen Charakter.
Besprochen von Ursula März
Ursula Priess: Sturz durch alle Spiegel
Ammann Verlag, Zürich 2009
167 Seiten, 18,90 Euro
In dem schmalen Prosaband "Sturz durch alle Spiegel", ihrer ersten literarischen Veröffentlichung, beschreibt sie aus teils authentisch-autobiografischer, teils fiktiver Sicht die Verzerrungen und Belastungen, die sie als Kind eines Mannes, der die Rolle als Künstler jeder anderen vorzog und der auch seine Umwelt in literarischen Stoff verwandelte, ein Leben lang begleiteten.
In kurzen Prosapassagen und Kapiteln verschränkt Ursula Priess ihre Kindheits-, Jugend- und Erwachsenenerinnerungen zum unchronologischen Bild einer heiklen Tochter-Vater-Beziehung. Auf den ersten Blick zählt "Sturz durch alle Spiegel" in die lange Reihe jener Literatur, in der sich die nachwachsende Generation an der vorangegangen abarbeitet, sich von ihr distanziert oder gar verabschiedet. Fraglos folgt auch Ursula Priess dieser Intention.
Auf den zweiten Blick folgt sie aber auch der entgegengesetzten Intention: Dem unbedingten Wunsch nach Annäherung an den Vater, ja nach Angleichung und Mimikry. Dies erweist sich nicht nur in Form und Sprachgestus, die aufs Haar dem autobiografischen Buch "Montauk" von Max Frisch ähneln. Es erweist sich auch in der Rahmenhandlung, die Ursula Priess um ihre Erinnerungen gelegt hat. In dieser Rahmenhandlung erzählt sie nicht in der ersten Person, sondern in der dritten Person Singular von der Begegnung einer etwas älteren Frau mit einem ebenfalls älteren Mann. Die beiden telefonieren fast ein Jahr, dann treffen sie sich in Venedig. Die aufkeimende Affäre wird erstickt, als sich der Verdacht der Frau - die mit Ursula Priess wohl identisch ist - erhärtet, bei dem Mann handele es sich um jenes Phantom, jenen heimlichen Liebhaber Ingeborg Bachmanns, dessen unbeweisbare Existenz Max Frisch vor Jahren in den Wahn der Eifersucht trieb.
Auf der symbolischen Ebene der Figurenanordnung setzt sich die Tochter Ursula Priess so folglich an die Stelle Ingeborg Bachmanns. So erfüllt sich der unbewusste Tochtertraum, dem Vater als Frau entgegenzutreten. Die Mischung aus Vergangenheitsbearbeitung und Realitätsvernebelung gibt dem Buch "Sturz durch alle Spiegel" insgesamt einen etwas zwiespältigen Charakter.
Besprochen von Ursula März
Ursula Priess: Sturz durch alle Spiegel
Ammann Verlag, Zürich 2009
167 Seiten, 18,90 Euro