Annäherungen an einen genialen Schriftsteller
Peter Ackroyds Shakespeare-Buch ist eine Biographie im Konjunktiv, die ihren Gegenstand, weil sie ihn nicht selbst zu fassen bekommt, über die Kontexte zu erschließen versucht. Doch der Autor versteht es, die schmale Überlieferung durch eine Fülle kulturgeschichtlicher Information zu einem Breitwandpanorama zu strecken, in dem ein Shakespeare so plausibel wie nur möglich erscheint.
Ein junger Mann, Sohn eines Handschuhmachers aus der Provinz, kommt in die Weltstadt London. Er verfügt nicht über familiäre Beziehungen, die ihm Einfluss sichern, er hat auch keine Universität besucht – aber in kurzer Zeit wird er zum bedeutendsten Dramatiker der Weltliteratur. Unwahrscheinlichkeit gehört zum Genie, aber wenn man nichts Genaues weiß, will man das Unwahrscheinliche nicht glauben.
Dürftig sind die Spuren, die sich von der realen Existenz des Autors erhalten haben; nicht einmal ein Brief von oder an Shakespeare ist darunter. Da biographisches Interesse erst einige Generationen nach seinem Tod einsetzte, gibt es nur wenige gesicherte Fakten. Stattdessen brodelt seit je die Gerüchteküche. Bis heute wird die Theorie vertreten, besagter Shakespeare sei nur der Strohmann für einen dichtenden Adligen und Renaissance-Weltmann gewesen. Als aussichtsreichster Kandidat gilt der 17. Earl of Oxford, Edward de Vere.
Das Shakespeare-Mysterium besteht darin, dass ein offenbar eher praktisch veranlagter Mann eine Welt voller Träume, Leidenschaften und Sprachschönheit erschaffen konnte. Shakespeare entspricht nicht dem Klischee des weltvergessenen Poeten. Weltkundig und ungeheuer energiegeladen, war er zugleich nüchtern und geschäftstüchtig genug, um als reicher Mann zu sterben. Wie Brecht wusste er auf seine Rechnung zu kommen – unter anderem ein Grund dafür, dass er sich vom wenig ergiebigen Gedichte schreiben abwandte und ganz auf das Massenmedium seiner Zeit setzte: das Theater.
Zwei Möglichkeiten gibt es, eine Shakespeare-Biographie zu schreiben. Man kann das dürre Gerippe der Überlieferung mit dem Fleisch der Erfindung aufpolstern: die Biographie mit der Lizenz zum Roman. Oder man kann den ungewissen Shakespeare gleichsam mit kulturgeschichtlichem Wissen umstellen, so wie es etwa Dieter Kühn bei seinen viel gelobten Biographien mittelalterlicher Dichter getan hat.
Überlieferungslücken durch Vermutungen ausfüllen, diese aber jederzeit als solche ausweisen. Eine Biografie im Konjunktiv, die ihren Gegenstand, weil sie ihn nicht selbst zu fassen bekommt, über die Kontexte zu erschließen versucht. Dies ist auch das Verfahren Peter Ackroyds. Der Romancier verbietet sich in seiner Shakespeare-Biographie das Romanhafte.
Auch Ackroyd hat keine spektakulären neuen Funde zu bieten. Längst hat die archivalische Wühlarbeit von Jahrhunderten jeden Zettel und jede Steuerbescheinigung, jede Tauf-, Heirats- oder Sterbeurkunde, jede Schuldverschreibung und jeden Immobilienkaufvertrag zutage gefördert und mehrfach hin und her gewendet. Bleiben die Werke, die Ackroyd, wo immer es sich anbietet, vermutungsweise auf autobiographischen Gehalt hin abklopft. So ist er nicht der erste, der in den rustikalen Handwerkerszenen des "Sommernachtstraums" Spiegelungen von Shakespeares Stratforder Kindheitswelt sieht.
Eine Stärke Ackroyds ist die Ortsbeschreibung: sei es einer provinziellen Handwerkerstraße in der Geburtsstadt, sei es des turbulenten elisabethanischen London, einer lebensstrotzenden und ungeheuer jungen Metropole. Mehr als die Hälfte der Bürger waren unter zwanzig. Eine ruhelose, gärende Welt. Ein neues Zeitalter lag in der Luft.
Ackroyd, der ja zuletzt mit einem viel gelobten und monumentalen Buch über London hervorgetreten ist, versucht die naturgemäß eher mageren, spekulativen Ausführungen über Shakespeare durch höchst vitale Stadtbeschreibung wettzumachen – so dass Shakespeare bei ihm bald als eine Art genialer Emanation der brodelnden Metropole erscheint. London, selbst eine vitale Mischung von Satire und Tragödie, Melodram und Burleske, war auf jeden Fall die harte Wiege seiner Dramenkunst.
Über weite Strecken ist Ackroyd dann mit der Theatergeschichte des 16. Jahrhunderts beschäftigt. Alle Fakten über Schauspieler und die damaligen Techniken ihrer Kunst, über die neuen professionellen Theatertruppen und die Theatergebäude, die auf engem Raum etwa dreimal soviel Menschen aufnehmen konnten wie die größten Theater heute, trägt er zusammen, so dass wir immerhin ein gutes Phantombild des Theaterunternehmers und Schauspielers Shakespeare bekommen, der auf der Welle der elisabethanischen Medienrevolution zu reiten verstand und die Gewinne nicht fremden Impresarios überließ.
Ohne detaillierte Interpretationen zu liefern, beschäftigt sich Ackroyd ausgiebig mit dem Schreibverfahren Shakespeares – seiner Auseinandersetzung mit Konkurrenten wie Marlowe oder Lyly, seiner kreativen Adaption und Assimilation klassischer Vorlagen. Shakespeare war ein Schnellschreiber, der jedoch im Lauf der Jahre und im Zuge der praktischen Bühnenerfahrung seine Texte immer wieder umarbeitete und erweiterte. Seine Dramen waren "work in progress". Was aber ist das Geheimnis seiner Kunst? In einer schönen Passage kommt Ackroyd ihm nahe:
"Alle Gestalten Shakespeares besitzen eine überbordende und nicht auf Zufuhr von außen angewiesene Energie ... Das ist auch der Grund dafür, dass Shakespeare kein wirkliches Interesse für Motive zu erkennen gibt, die ein bestimmtes Verhalten begründen. Seine Personen sind schon ganz mit Leben erfüllt und entfalten dieses, sobald sie die Bühne betreten: Ihr Verhalten braucht keinerlei Begründung."
Ganz ähnlich verhält es sich mit Shakespeare selbst: neue "Begründungen" für sein Genie kann Ackroyd kaum liefern. Aber er versteht es, die schmale Überlieferung durch eine Fülle kulturgeschichtlicher Information zu einem Breitwandpanorama von über 600 dicht bedruckten Seiten zu strecken, in dem ein Shakespeare so plausibel wie nur möglich erscheint. Eine Annäherung, die man mit Gewinn liest.
Rezensiert von Wolfgang Schneider
Peter Ackroyd: Shakespeare. Die Biographie
Aus dem Englischen von Michael Müller und Otto Lucian.
Albrecht Knaus Verlag, München 2006, 656 Seiten, 28 Euro
Dürftig sind die Spuren, die sich von der realen Existenz des Autors erhalten haben; nicht einmal ein Brief von oder an Shakespeare ist darunter. Da biographisches Interesse erst einige Generationen nach seinem Tod einsetzte, gibt es nur wenige gesicherte Fakten. Stattdessen brodelt seit je die Gerüchteküche. Bis heute wird die Theorie vertreten, besagter Shakespeare sei nur der Strohmann für einen dichtenden Adligen und Renaissance-Weltmann gewesen. Als aussichtsreichster Kandidat gilt der 17. Earl of Oxford, Edward de Vere.
Das Shakespeare-Mysterium besteht darin, dass ein offenbar eher praktisch veranlagter Mann eine Welt voller Träume, Leidenschaften und Sprachschönheit erschaffen konnte. Shakespeare entspricht nicht dem Klischee des weltvergessenen Poeten. Weltkundig und ungeheuer energiegeladen, war er zugleich nüchtern und geschäftstüchtig genug, um als reicher Mann zu sterben. Wie Brecht wusste er auf seine Rechnung zu kommen – unter anderem ein Grund dafür, dass er sich vom wenig ergiebigen Gedichte schreiben abwandte und ganz auf das Massenmedium seiner Zeit setzte: das Theater.
Zwei Möglichkeiten gibt es, eine Shakespeare-Biographie zu schreiben. Man kann das dürre Gerippe der Überlieferung mit dem Fleisch der Erfindung aufpolstern: die Biographie mit der Lizenz zum Roman. Oder man kann den ungewissen Shakespeare gleichsam mit kulturgeschichtlichem Wissen umstellen, so wie es etwa Dieter Kühn bei seinen viel gelobten Biographien mittelalterlicher Dichter getan hat.
Überlieferungslücken durch Vermutungen ausfüllen, diese aber jederzeit als solche ausweisen. Eine Biografie im Konjunktiv, die ihren Gegenstand, weil sie ihn nicht selbst zu fassen bekommt, über die Kontexte zu erschließen versucht. Dies ist auch das Verfahren Peter Ackroyds. Der Romancier verbietet sich in seiner Shakespeare-Biographie das Romanhafte.
Auch Ackroyd hat keine spektakulären neuen Funde zu bieten. Längst hat die archivalische Wühlarbeit von Jahrhunderten jeden Zettel und jede Steuerbescheinigung, jede Tauf-, Heirats- oder Sterbeurkunde, jede Schuldverschreibung und jeden Immobilienkaufvertrag zutage gefördert und mehrfach hin und her gewendet. Bleiben die Werke, die Ackroyd, wo immer es sich anbietet, vermutungsweise auf autobiographischen Gehalt hin abklopft. So ist er nicht der erste, der in den rustikalen Handwerkerszenen des "Sommernachtstraums" Spiegelungen von Shakespeares Stratforder Kindheitswelt sieht.
Eine Stärke Ackroyds ist die Ortsbeschreibung: sei es einer provinziellen Handwerkerstraße in der Geburtsstadt, sei es des turbulenten elisabethanischen London, einer lebensstrotzenden und ungeheuer jungen Metropole. Mehr als die Hälfte der Bürger waren unter zwanzig. Eine ruhelose, gärende Welt. Ein neues Zeitalter lag in der Luft.
Ackroyd, der ja zuletzt mit einem viel gelobten und monumentalen Buch über London hervorgetreten ist, versucht die naturgemäß eher mageren, spekulativen Ausführungen über Shakespeare durch höchst vitale Stadtbeschreibung wettzumachen – so dass Shakespeare bei ihm bald als eine Art genialer Emanation der brodelnden Metropole erscheint. London, selbst eine vitale Mischung von Satire und Tragödie, Melodram und Burleske, war auf jeden Fall die harte Wiege seiner Dramenkunst.
Über weite Strecken ist Ackroyd dann mit der Theatergeschichte des 16. Jahrhunderts beschäftigt. Alle Fakten über Schauspieler und die damaligen Techniken ihrer Kunst, über die neuen professionellen Theatertruppen und die Theatergebäude, die auf engem Raum etwa dreimal soviel Menschen aufnehmen konnten wie die größten Theater heute, trägt er zusammen, so dass wir immerhin ein gutes Phantombild des Theaterunternehmers und Schauspielers Shakespeare bekommen, der auf der Welle der elisabethanischen Medienrevolution zu reiten verstand und die Gewinne nicht fremden Impresarios überließ.
Ohne detaillierte Interpretationen zu liefern, beschäftigt sich Ackroyd ausgiebig mit dem Schreibverfahren Shakespeares – seiner Auseinandersetzung mit Konkurrenten wie Marlowe oder Lyly, seiner kreativen Adaption und Assimilation klassischer Vorlagen. Shakespeare war ein Schnellschreiber, der jedoch im Lauf der Jahre und im Zuge der praktischen Bühnenerfahrung seine Texte immer wieder umarbeitete und erweiterte. Seine Dramen waren "work in progress". Was aber ist das Geheimnis seiner Kunst? In einer schönen Passage kommt Ackroyd ihm nahe:
"Alle Gestalten Shakespeares besitzen eine überbordende und nicht auf Zufuhr von außen angewiesene Energie ... Das ist auch der Grund dafür, dass Shakespeare kein wirkliches Interesse für Motive zu erkennen gibt, die ein bestimmtes Verhalten begründen. Seine Personen sind schon ganz mit Leben erfüllt und entfalten dieses, sobald sie die Bühne betreten: Ihr Verhalten braucht keinerlei Begründung."
Ganz ähnlich verhält es sich mit Shakespeare selbst: neue "Begründungen" für sein Genie kann Ackroyd kaum liefern. Aber er versteht es, die schmale Überlieferung durch eine Fülle kulturgeschichtlicher Information zu einem Breitwandpanorama von über 600 dicht bedruckten Seiten zu strecken, in dem ein Shakespeare so plausibel wie nur möglich erscheint. Eine Annäherung, die man mit Gewinn liest.
Rezensiert von Wolfgang Schneider
Peter Ackroyd: Shakespeare. Die Biographie
Aus dem Englischen von Michael Müller und Otto Lucian.
Albrecht Knaus Verlag, München 2006, 656 Seiten, 28 Euro