Annalena McAfee: "Blütenschatten"
Aus dem Englischen von pociao und Roberto de Hollanda
Diogenes, Zürich 2021
327 Seiten, 24 Euro
Künstlerinnen sind nicht die besseren Menschen
06:25 Minuten
Annalena McAfee entlarvt in "Blütenschatten" die Ausschlusskriterien der Kunstwelt und den Mythos des genialen männlichen Künstlers. Aber auch Künstlerinnen kommen nicht gut bei ihr weg: Ihre Hauptperson Eve Laing ist von zweifelhaftem Charakter.
Mit ihrem Aufsatz "Why have there been no great women artists?" erschütterte die US-Kritikerin Linda Nochlin 1971 die Kunstszene. Für sie waren Frauen nicht weniger begabte Künstlerinnen. Sie seien vielmehr an den Ausschlussmechanismen der Kunstwelt und dem Mythos vom genialen männlichen Künstler gescheitert.
Wie ein Tribut an diese, zu Unrecht nicht beachteten Künstlerinnen kommt der Roman "Blütenschatten" daher. Denn Eve Laing, die 60 Jahre alte Protagonistin, plant auf dem Höhepunkt ihrer Karriere, das Ende des Lebens in Sicht, ihr Opus Magnum als Malerin. "Poison Florilegium" nennt sie den geplanten Zyklus kolorierter Pflanzendarstellungen, der "ein Akt der Wiedergutmachung für all die unsichtbaren Frauen in der Botanik und der Kunst" werden soll.
Vom Punk zur angesagten Künstlerin
"Blütenschatten" ist der dritte Roman der britischen Autorin Annalena McAfee. Das jüngste Werk der 1952 geborenen Autorin reiht sich ein in die ausufernde Reihe von Büchern wie Michel Houellebecqs "Karte und Gebiet" oder Kristof Magnussons "Ein Mann der Kunst". Mit einer Mischung aus Neid und Neugier erkunden die Autorinnen und Autoren die Mechanismen des millionen- und aufmerksamkeitsschweren Betriebssystems, das ihnen in den vergangenen Dekaden den Rang abgelaufen hat: die Bildende Kunst.
Viel Geld, hochgetunter Flachsinn und das übliche Habitus-Theater spielen auch in Eves Leben eine große Rolle. Bei nächtlichen Spaziergängen lässt sie ihren Aufstieg vom wilden Punk in der Londoner und New Yorker Subkultur zur angesagten Künstlerin an der Seite eines Star-Architekten mit Villa in London und Landhaus in Wales Revue passieren.
Dominanzgehabe, mal umgekehrt
Ins feministische Motiv der Autorin passt, dass sich Eve zu Beginn ihrer Karriere dem berühmten Maler Florian Kiš als willige Muse unterwarf. Dessen Dominanzgehabe kehrt sie heute gegen ihren Assistenten Luka. Für die leidenschaftliche, aber ambivalente Liebesbeziehung zu dem 30 Jahre Jüngeren verlässt sie ihren Mann.
"Blütenschatten" ist ein Stück versierter, nicht ganz klischeefreier, aber urlaubskompatibler Unterhaltungsliteratur. Die Ehefrau von Ian McEwan, jahrelang Kunst- und Literaturredakteurin der "Financial Times", die auch lange die Literaturbeilage des "Guardian" leitete, kennt die Innenwelt des Kulturbetriebs. Dieses Insiderwissen hat die Autorin von acht Kinderbüchern mit gut recherchierten Versatzstücken aus Kunstgeschichte und Botanik zu einem makellosen Stück Intarsienliteratur verfugt.
Die Tochter verspottet sie als "Dummchen"
Mit der Gestalt von Eves einstiger Studienfreundin Wanda Wilson, einer Art durchgeknalltem Alter Ego der Performance-Künstlerin Marina Abramović, zieht McAfee in den Plot gar einen metaphysischen Subtext ein. In diesem Roman kämpft die Mimesis gegen die Dekonstruktion. Und als ein - Jahrzehnte zurückliegender - Missbrauchsfall ans Tageslicht kommt und Eve in einen existenzbedrohenden Twittersturm gerät, rast der anfangs etwas gemächliche Roman plötzlich mit Hochgeschwindigkeit in den Me Too-Orkan von heute.
Seine Protagonistin ist keine sympathische Zeitgenossin. Ihre eigene Tochter verspottet Eve als "liberales Dummchen", ihre Ex-Freundin Wanda als "Betrügerin". Im großen Showdown zeigt sie schließlich ihre kaltblütige Seite.
Wie McAfee bei ihrer Ehrenrettung weiblicher Kunst positive Erwartungen an deren Charaktere unterläuft, macht ihre Qualität als Autorin aus. Es gibt diese großen Künstlerinnen, ließe sich ihr Roman lesen. Sie müssen aber nicht die besseren Menschen sein.