Anne Applebaum: "Red Famine"

Wie Russland die Ukraine zerfallen ließ

Im Vordergrund das Cover von Anne Applebaums "Red Famine", im Hintergrund leuchtende Kerzen während einer Gedenkzeremonie an die Opfer der Hungersnot in Kiew.
Anne Applebaum bringt ihren Lesern in "Red Famine" die Hungersnot in der Ukraine auch mit vielen persönlichen Schicksalen nahe. © Buchcover: Penguin; Hintergrund: imago/ Zuma
Von Markus Ziener |
Anne Applebaum liefert mit ihrem exzellent geschriebenen Buch "Red Famine" die Hintergründe zum immer noch währenden Krieg in der Ostukraine. Sie schildert die Hungerepidemien der 1930er-Jahre und dokumentiert, wie Moskau versucht hat, der Ukraine jegliche Identität zu nehmen.
Um es gleich vorweg zu nehmen: Anne Applebaum kommt in ihrer Analyse zu einem verheerenden Ergebnis. Die russischen Bolschewiki unter der Führung von Josef Stalin haben die Not jener Jahre nicht nur politisch genutzt, sondern noch ganz bewusst vergrößert. So sehr, dass am Ende mindestens rund 4,5 Millionen Menschen an ihr zu Grunde gingen - und jegliches Streben nach ukrainischer Selbstbestimmung gleich mit. Die Historikerin diagnostiziert damit nichts weniger als ein gigantisches Verbrechen der kommunistischen Führung in Moskau. Ein Verbrechen, das bis heute in der Ukraine nachwirkt.
Rund 30 Jahre vor Anne Applebaum hatte der britisch-amerikanische Wissenschaftler Robert Conquest mit seinem Buch "Harvest Of Sorrow", auf Deutsch erschienen als "Ernte des Todes", das Thema zwar bereits einer breiten Öffentlichkeit vorgestellt. Doch Applebaum hat nicht nur Zugang zu neuen, vor allem ukrainischen Quellen. Sie unternimmt Geschichtsschreibung der modernen Art. Geübt aus früheren Werken wie etwa der Darstellung des Gulag-Systems in der Sowjetunion, verbindet sie Historie mit detaillierten Beschreibungen von Zeitzeugen. Der Leser erfährt, was extremer Hunger bedeutet, abseits der nüchternen Zahlen. Sie zitiert aus einem Brief eines zehnjährigen Mädchens an ihren Onkel in Charkiw aus dem Jahr 1933:
"Lieber Onkel! Wir haben kein Brot oder irgendetwas anderes zu essen. Meine Eltern sind erschöpft vor Hunger, sie liegen und stehen nicht mehr auf. Meine Mutter ist blind vor Hunger und kann nichts mehr sehen. So sehr wünsche ich mir Brot. Nimm mich zu Dir nach Charkiw, Onkel, weil ich ansonsten vor Hunger sterben werde. Nimm mich mit, ich bin jung und will leben, aber hier werde ich sterben, weil jeder stirbt."
Beispiel über Beispiel findet sich in dem Buch, wie Menschen verhungern: Auf den Feldern während der Arbeit, auf dem Heimweg, am Straßenrand. Applebaum beschreibt, wie eine Gesellschaft zerfällt:
"Traditionelle ukrainische Beerdigungen umfassen üblicherweise einen Chor, ein gemeinsames Essen, das Singen von Psalmen, das Vorlesen aus der Bibel. Jetzt aber hatte niemand mehr die Kraft, ein Grab auszuheben, eine Zeremonie abzuhalten oder Musik zu spielen. Religiöse Rituale verschwanden."

Zielscheibe der bolschewistischen Aggression

Den politischen Hintergrund für die Hungersnot lieferte die von der kommunistischen Führung betriebene Kollektivierung der Landwirtschaft. An die Stelle einzelner privater Bauernhöfe traten staatliche Kolchosen und Sowchosen. Der Bauer wurde zum landwirtschaftlichen Industriearbeiter, der politisch besetzte Dorfsowjet ersetzte die bisherige Dorfgemeinschaft, in der die Bauern viel zu sagen hatten. Die Sozialstruktur der Kommunen wurde damit komplett umgekrempelt. Mehr noch: Die Bauern wurden zur Zielscheibe der bolschewistischen Aggression. Für Stalin war klar, dass die Landwirte, die privaten Grund und eine relative Unabhängigkeit besaßen, den Plänen der Kommunisten den größten Widerstand entgegen bringen würden. Und am meisten fürchtete er dabei jene in der Kornkammer der Sowjetunion, der Ukraine.
Vor allem die reichen Bauern, 'Kulaken' genannt, rückten ins Visier des sowjetischen Diktators. Deren Egoismus machte er für sämtliche Versorgungsmängel verantwortlich. In der Konsequenz begann eine Jagd auf alle Bauern, die auch nur annähernd als reich gelten konnten. Um in diese Kategorie zu fallen, genügte schon der Besitz von mehr als zwei oder drei Kühen, einigen Pferden oder einem halben Dutzend Schweine. Unter der Führung der Geheimpolizei GPU wurde jedes Dorf, jedes Haus durchsucht, es wurden Nahrungsmittel konfisziert, massenweise Bauern verhaftet.

Am Ende des "Holodomors" war die Ukraine eine andere

Der Hunger, der durch Missernten und Kollektivierung schon groß war, wuchs dadurch zu einer riesigen Hungersnot, dem, was die Ukrainer heute als "Holodomor", einer Tötung durch Hunger, bezeichnen. Während ab dem Jahr 1932 die Berichte aus der Ukraine immer verzweifelter wurden, wagte die Parteiführung keine Änderung ihrer Politik. Stalin selbst hatte die harte Linie gegen die Ukraine verfügt. Und jegliche Kritik an dem Diktator wäre Selbstmord gleichgekommen. Also schwiegen die Parteifunktionäre oder beschönigten gar die Lage. Dies auch dann noch, als Stalin mit einer Reihe von Dekreten die Ukraine noch weiter auspresste. Im Spätherbst 1932 forderte er die Parteigliederungen auf, aus den Häusern nun alles Essbare zu holen und nach Russland zu schicken oder gegen Devisen ins Ausland zu exportieren. Anne Applebaum schreibt:
"Im November und Dezember 1932 stieß Stalin der Ukraine das Messer noch ein Stück tiefer hinein und verschärfte damit ganz bewusst die Krise. Schritt für Schritt löste er damit eine Hungersnot innerhalb der Hungersnot aus - und damit eine Katastrophe, die speziell der Ukraine galt."
Wer sich wehrte, die Wahrheit sagte oder schrieb, der wurde mit Repression überzogen. Es gab Deportationen, Säuberungen, Schauprozesse. Am Ende des Holodomors war die Ukraine eine andere. Erschüttert vom Terror, ausgeblutet vom Hunger und personell ausgetauscht, war nach 1933 für Stalin die nationale Frage in der Ukraine erledigt.
Warum das exzellent geschriebene Buch von Anne Applebaum heute so wichtig ist? Weil es erklärt, warum es bei so vielen Ukrainern tief sitzende anti-russische Reflexe gibt. Weil es dokumentiert, wie Moskau versuchte, der Ukraine jegliche Identität zu nehmen. Und weil es deutlich macht, warum die Sorge der Ukrainer, irgendwann wieder zu einer Kolonie Russlands zu werden, bis heute so groß ist. Was seit 2014 auf der Krim und im Donbass passiert, weckt bei der Mehrzahl der Ukrainer düsterste Erinnerungen. Erinnerungen, die das Pochen auf Unabhängigkeit noch stärken.

Anne Applebaum: Red Famine. Stalin's War On Ukraine
Penguin Books, 2017
ca. 18,00 Euro

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