Anne Brannys: "Eine Enzyklopädie des Zarten"
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt/M. 2017
290 Seiten, 38,00 Euro
Was das absolut Zarte bedeuten kann
"Sanftmut" und "Hasenherz" sind zwei Begriffe, die in der „Enzyklopädie des Zarten“ von Anne Brannys vorkommen. Die Autorin versammelt Alltägliches und Kurioses, um dem Begriff des Zarten nachzuspüren – auch dort, wo man ihn zunächst nicht vermutet.
Eigentlich dient ein Zettelkasten als Hilfsmittel. Der Soziologe Niklas Luhmann beispielsweise hat einen mit 90.000 Notizen hinterlassen. Viele enthalten Überlegungen, die er in seinen Büchern ausführte, viele wurden auch nicht direkt verwertet.
Ein Zettelkasten im Leineneinband ist das Buch der Bildenden Künstlerin Anne Brannys. Die 1983 geborene, promovierte Absolventin der Weimarer Bauhaus-Universität hat auf knapp dreihundert Seiten all das versammelt, was sie mit dem Begriff des Zarten verbindet. "Enzyklopädie des Zarten" heißt dieses kleine, haptisch ansprechende, aber keineswegs griffige Gesamtkunstwerk. Es enthält Zitate, alltägliche und philosophische Begriffe, aber auch hundert Abbildungen von Kunst-und Alltagsgegenständen. In ihrer Gesamtheit versuchen sie das Phänomen "Zart" in Kunst, Literatur und Naturwissenschaft zu fassen.
Brannys stellt das "Zarte" als etwas schwer zu Fassendes vor
Die Auswahl hat die Autorin – man könnte in diesem Fall durchaus auch von der Kuratorin sprechen – subjektiv getroffen. So findet man Ausführungen zu ganz unterschiedlichen Stichworten wie "Erröten" und "Glatze", "Intimität", "Blättern" und "Zorro". Jeweils ein bis zwei Seiten widmen sich einem Begriff – der oftmals auch wieder auf andere verweist.
Unter dem Stichwort "Absenz", mit dem Brannys Enzyklopädie am unteren Ende einer leeren Seite beginnt, finden sich fünf Begriffe, die selbst zum Stichwort für weiterführende Überlegungen in diesem Buch werden.
Zart sei etwas, ist dort zu lesen, "wenn es kleiner, feiner, zerbrechlicher, weicher ist als ein anderes, wenn wir die größtmögliche Sorgfalt aufbringen müssen, um es zu erkennen oder zu fassen." Das absolut Zarte wäre demnach die "Reduktion bis hin zur Abwesenheit". Beispielsweise die noch spürbare Körperwärme auf einem Stuhl, auf dem zuvor schon jemand gesessen hat. Diese spürbare Absenz könne als eine Art "Intimität" verstanden werden. Schlägt man dann bei "Intimität" nach, geht es aber keineswegs weiter um verschwundene Sesselhocker, sondern höchst anspruchsvoll um Überlegungen des Philosophen José Ortega y Gasset, welche Form des Kunstgenusses ohne gefühlte Nähe, ohne "Intimität", möglich ist.
Herrlich frei von direkter Verwertbarkeit
Brannys "Enzyklopädie des Zarten" wird jeden enttäuschen, der klare Definitionen oder systematische Ableitungen erwartet. Der Reiz des Buches besteht in seiner Offenheit. Es stellt das "Zarte" als etwas schwer zu Fassendes vor, als etwas Schwebendes, als ein Phänomen, das sich festen Kategorien entzieht. Großartig, wie hier Form und Inhalt miteinander korrespondieren. Der Umgang eines Lesers und Betrachters mit dem Objekt erfordert bereits Zartgefühl: der lösbare Einband ist mit Stichworten bedruckt, man muss, um sich einen Eindruck vom Gegenstand zu verschaffen, ihn vorsichtig entfalten, muss das obere Einbandpapier leicht drücken, um den ganzen Titel lesen zu können.
Einzelne Seiten sind häufig nicht aufgeschnitten, so dass man sich entscheiden darf, ob man zwischen die Seiten lugt oder sie vorsichtig voneinander trennt, sie zärtlich entblättert. Unter dem Stichwort "Sachte" wird ein Gedicht des irischen Dichters W. B. Yeats zitiert, in dem das Spannungsverhältnis von Heftigkeit und Vorsicht beschrieben ist: "Tritt sachte auf, du trittst auf meine Träume." Genau das wäre die Gebrauchsanweisung für diese Enzyklopädie. Herrlich frei von direkter Verwertbarkeit werden hier Ideen ausgebreitet und stellen sich assoziative Bezüge her, die überraschen, erhellen, Gefühl und Verstand stimulieren.